Am 3. September 1944 machte Rudolf Bilgeri Ernst. "Der entscheidende Augenblick rückt näher und näher. Der Zeiger geht auf sechs Uhr 45", notierte Bilgeri in sein Tagebuch. Der 37-jährige Lehrer aus Vorarlberg war seit einem guten Jahr im von der Wehrmacht besetzten Griechenland stationiert und fürchtete, seine Frau und Kinder nicht mehr wiederzusehen.

Die deutschen Besatzer und ihre Kollaborateure unterdrückten die griechische Bevölkerung mit brutaler Gewalt, Jüdinnen und Juden wurden systematisch deportiert. Überfälle, Anschläge und Gefechte mit Partisanen standen auf der Tagesordnung.

Bilgeri war als technischer Zeichner eingesetzt und selbst bislang nicht in Kampfhandlungen involviert gewesen. Doch das schien nur noch eine Frage der Zeit zu sein. Als gläubiger Katholik lehnte er den Nationalsozialismus ab und wollte vor allem eines: überleben. Mithilfe der Dolmetscherin Dina, die Kontakte zu einer Partisanengruppe hielt, verließ er an diesem Septembermorgen unter einem Vorwand seine Dienststelle bei Athen – und kehrte nicht zurück. Er lief gemeinsam mit zwei Kameraden zu den Partisanen über und tauschte die "verhasste Uniform" gegen Zivilkleidung.

Rudolf Bilgeri als Gefreiter der Wehrmacht. Privatarchiv Bilgeri
Der Vorarlberger Lehrer Rudolf Bilgeri (1907–1992) kam 1943 als Wehrmachtssoldat nach Griechenland. 1944 desertierte er
Privatarchiv Bilgeri

"... dann ist's aus mit dem Leben ..."

Die Deserteure versuchten, ihre Flucht wie einen Überfall durch Partisanen aussehen zu lassen. Welches Risiko sie eingingen, stand außer Zweifel: "Werden wir verfolgt und eingefangen, dann ist’s aus mit dem Leben", hielt Bilgeri in seinem Tagebuch fest.

Nun fand er sich, der gerade noch deutscher Besatzer gewesen war, in den Athener Elendsquartieren wieder: unter Kommunistinnen, bitterarmen Familien, bewaffneten Frauen – dankbar, aber mit gemischten Gefühlen. Bis 1947 schrieb Bilgeri, dessen Sohn Reinhold später als Künstler bekannt werden sollte, an seinen "Tagebuchblättern".

Er berichtete über seine Flucht aus der Wehrmacht, die Zeit bei den Partisanen, seine anschließende Gefangenschaft in Ägypten durch die britische Armee und schließlich die Rückkehr nach Vorarlberg. Die Historiker Peter Pirker und Ingrid Böhler haben seine Aufzeichnungen nun als Buch herausgegeben. Dass Bilgeri sein Tagebuch nicht für die Schublade verfasste, sondern dezidiert für seine Familie, ist ungewöhnlich. Aus wissenschaftlicher Sicht sind seine Schriften aber aus anderen Gründen interessant.

Privatarchiv Bilgeri
Über seine Flucht und die Zeit bis zur Rückkehr nach Österreich 1947 führte Bilgeri Aufzeichnungen, die er seiner Familie widmete.
Privatarchiv Bilgeri

Seltene Quelle

"Das Besondere an dieser Quelle ist, dass es eine so zeitnahe Darstellung der Desertion ist, das ist sehr selten in der Forschung", sagt Pirker. "Noch dazu gibt es sehr wenige Berichte von Wehrmachtssoldaten über Griechenland. Es waren sehr viele Österreicher dort und in die verschiedenen Verbrechen verwickelt, aber das ist noch ein ziemlich blinder Fleck in der österreichischen Erinnerungskultur."

Pirker ist derzeit an der Universität Graz und Universität Klagenfurt tätig, in den vergangenen Jahren führte er an der Uni Innsbruck ein Forschungsprojekt zu Wehrmachtsdeserteuren in Tirol und Vorarlberg durch. "Wir haben dabei von Anfang an versucht, medial zu arbeiten und mit der Bevölkerung zusammenzuarbeiten", sagt der Historiker.

Die Resonanz sei überwältigend gewesen: "Es haben sich erstaunlich viele Menschen gemeldet, die über Familienmitglieder berichtet haben, die desertiert sind oder Deserteuren geholfen haben", erzählt Pirker. In etwa 50 Fällen entstand eine intensivere Zusammenarbeit – auch mit der Familie Bilgeri. Rund 800 Deserteure aus Tirol und Vorarlberg sind heute namentlich bekannt.

Privatarchiv Bilgeri
Bei Fragen in der Familie über seine Zeit im Krieg verwies Bilgeri auf das Tagebuch. Darüber sprechen wollte er nicht.
Privatarchiv Bilgeri

Schweigende Männer

Rudolf Bilgeri, der nach seiner Heimkehr wieder als Lehrer arbeitete, sprach zu Hause nicht über seine Erlebnisse. Bei Fragen in der Familie verwies er aber auf das Tagebuch. "Vater war ein stiller Mann", schreibt Reinhold Bilgeri im Nachwort des nun veröffentlichten Tagebuchs. "Die Erinnerung war ihm eine Last. Er war, wie jeder Soldat, immer wieder mit dem Tod konfrontiert gewesen, hatte tote Zivilisten gesehen, ermordete Frauen und Kinder, gefallene Kameraden, die Verrohung, die der Krieg bei den Menschen bewirkte. Er wollte aus dem Leben verbannen, was die Aufbruchsstimmung der neuen Zeit verdunkeln hätte können. Wer kann es ihm verdenken."

Rudolfs Frau Ilse, die 1944 in die Desertionspläne eingeweiht gewesen war, sprach hingegen offen über die Desertion. "Es war oft so, dass Frauen eher über Desertionen gesprochen haben", sagt Pirker. "Männer haben sich offensichtlich schwerer damit getan. Desertion wurde lange als Zeichen der Feigheit, der Schwäche, des Verrats gewertet."

Rehabilitiert wurden Wehrmachtsdeserteure in Österreich erst 2009. Rudolf Bilgeri erlebte das nicht mehr, er starb 1992. (David Rennert, 18.9.2023)