"Das ist doch ein Wahnsinn. Das können die doch nicht machen." Kopfschüttelnd steht eine Frau vor einem großen Banner, auf dem das Foto eines Tunnelbaus zu sehen ist. Die Maschinen sind monströs, man kann den Lärm, den sie machen, förmlich hören. Und das soll hier passieren, auf dem Flecken Gras, auf dem die Frau gerade steht. Um sie herum ist es heute zwar auch nicht gerade leise: Ein Generator brummt, vom Fernseher, auf dem eine Dokumentation gezeigt wird, schallt Musik herüber. Aber das Schaubild erfüllt seinen Zweck, die Frau wirkt schockiert.

S18, Verkehr, Rheintal, Lustenau, Mobilität
Etwas mehr als 1.000 Menschen kamen am Sonntag zum ersten Riedfest in Lustenau.
Verein Lebensraum Zukunft Lustenau

Wo sie und hunderte andere heute stehen, befindet sich das Lustenauer Ried. Es ist Naherholungsraum, teilweise Schutzgebiet für seltene Vogelarten, landwirtschaftliche Nutzfläche, für viele ihr Schrebergarten – aber vor allem "ein Schatz vor der Haustür". Das möchte zumindest der Verein Lebensraum Zukunft Lustenau zeigen, der das erste Riedfest veranstaltet hat.

Der ausgestopfte Kiebitz

Barbara Hagen lächelt zufrieden. Soeben hat ihr eine Besucherin einen ausgefüllten Zettel in die Hand gedrückt – sie will Mitglied beim ornithologischen Verein Die Drossel werden. "Ich habe schon länger darüber nachgedacht", sagt das Neo-Vereinsmitglied. "Heute ist doch die perfekte Gelegenheit." Das Natura-2000-Gebiet Nördliches Schweizer Ried in Lustenau ist ein bedeutsames Brutgebiet für die in Vorarlberg stark bedrohten Wiesenbrüter und beherbergt eines der besten Brutvorkommen des Kiebitzes im Land. Der Kiebitz steht neben anderen Vogelarten heute ausgestopft auf dem Marktstand, hinter dem Hagen sitzt. Zum Schutz der Vögel wurden in den letzten Jahren im Ried mehrere Feuchtbiotope angelegt.

"Aber Vögel bleiben ja nicht an einem exakt bemessenen Ort", sagt Hagen dazu, dass die geplante Schnellstraße nicht durch Schutzgebiet verlaufen würde. "Natürlich hätte eine so große Baustelle Auswirkungen auf die Vögel im ganzen Ried." Also gar keine Straße? "Das auch nicht", sagt Hagen. Bevor sie ausführen kann, dass es die kürzeste Verbindung mit der kürzesten Bauzeit sein soll, wird sie von einer weiteren Standbesucherin unterbrochen. "Was ist mit denen passiert", fragt die Frau und zeigt mit großen Augen auf die ausgestopften Federtiere. "Wurden die etwa umgebracht?" An der gelassenen Reaktion von Hagen und ihren Kollegen merkt man, dass die Frage nicht zum ersten Mal gestellt wurde.

Volksbefragung im November

Rund 20 naturverbundene Initiativen und Privatpersonen informieren an diesem Sonntag darüber, was im Ried passieren soll. Nicht nur die Ornithologen, sondern auch der örtliche Obst- und Gartenbauverein, die Bienenzüchter und überregionale Initiativen wie der Verein für Bodenfreiheit oder der Naturschutzbund. Und sie zeigen, welche Auswirkungen es hätte, wenn die S18 – die die schweizerische und die österreichische Autobahn A14 verbinden soll – hier gebaut wird. Die Feier passiert im Vorfeld einer Volksbefragung, die in Lustenau am 19. November stattfindet. Der Bürgermeister Kurt Fischer (ÖVP) will dabei wissen, ob die Marktgemeinde in behördlichen Verfahren sowie in deren Vorfeld alle rechtlichen und politischen Mittel ergreifen soll, um den Bau der S18, Variante CP, zu ermöglichen, wie es in der Fragestellung heißt.

An Marktständen und bei Kurzvorträgen – wie von Landwirt Simon Vetter – konnten sich Besucher über den Lebensraum Ried und die Auswirkungen einer möglichen S18-Baustelle dort informieren.
Verein Lebensraum Zukunft Lustenau

Fischer ist ein Gegner dieser Variante – und damit nicht allein. Die Variante führt vom Knoten Dornbirn (A14) bis zur Staatsgrenze bei Höchst. Lustenau wird bei der 8,5 Kilometer langen Strecke am östlichen Ortsrand umfahren. Die Straße geht dafür quer durch das Ried – und kommt dem Siedlungsgebiet für viele Anrainerinnen zu nahe. Es ist die Variante, auf die man sich nach jahrelangem Hin und Her zuletzt verständigt hat – auch weil die Landes-ÖVP eine ganz andere Sicht hat als die Lustenauer ÖVP – und die die Asfinag derzeit plant. Das Megaprojekt befindet sich allerdings noch in der Phase "Vorprojekt" und soll 1,5 Milliarden Euro kosten. Auf Wunsch von Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne) werden derzeit weitere Varianten geprüft.

Enkelkinder als Motivator

Es ist ein besonders heißer Sonntag für Mitte September. Das merkt man nicht nur daran, dass die Schattenplätze beim Fest heiß begehrt sind, sondern auch an den langen Schlangen vor den Getränkeständen. Etwa 1.100 Besucherinnen und Besucher werden es am Ende des Tages laut Veranstaltern gewesen sein, die – großteils mit dem Fahrrad – gekommen sind. Darunter auch viele Familien mit Kindern, denn neben Vorträgen und Informationen über Vogelarten und Obstbäume im Ried, Anschauungsmaterial über den Anstieg der mittleren Jahrestemperatur und natürlich Essen und Trinken sind auch Ponys und eine Clownfrau bereitgestanden.

Kinder, beziehungsweise Enkelkinder, haben auch Karlheinz Zeiner ins Ried gebracht. Oder, besser gesagt: Sie haben ihn zum Umdenken gebracht. "Sie sind meine Motivation", sagt der pensionierte Physiklehrer, FH-Dozent und Softwareentwickler. Wenn es um große Bauprojekte wie die S18 oder die Tunnelspinne in Feldkirch und um die Auswirkungen großer Verkehrsvorhaben geht, ist Zeiner nicht weit. Zwei Tage vor dem Riedfest war er einer der Abschlussredner bei der Klimademo in Bregenz. Dort und hier in Lustenau spricht er an, warum es eine Mobilitätswende brauche – und zwar jetzt. "Aber die Landesregierung tut nichts. Die Ziele, die sie sich bis 2030 in diesem Bereich gesetzt hat, und was man in der Realität dafür unternimmt", der Pensionist schüttelt den Kopf, macht eine ablehnende Handbewegung, "das ist doch alles ein Schwindel."

Welche Ideen es gibt

Was sich viele der beim Riedfest vertretenen Initiativen und Vereine wünschen, ist ebenfalls auf einem Banner festgehalten: "Visionen mutig umsetzen", steht dort. Etwa dass das Projekt Straßenbahn im Rheintal angegangen werden sollte, die Güter verstärkt mit der Bahn transportiert werden müssen. Und abgesehen vom konkreten Projekt S18, dass in andere Formen der Mobilität – und Energiegewinnung – investiert werden muss.

Die meisten Besucher kamen mit dem Fahrrad, auf Schautafeln listete der Verein Lebensraum Zukunft Lustenau auf, warum das Projekt in dieser Variante gestoppt werden soll.
Verein Lebensraum Zukunft Lustenau

Ein Stichwort für den ehemaligen Lehrer Zeiner. Er tut das, was er schon immer gerne getan hat: rechnen. Zum Beispiel wie viele Windräder es bräuchte, um die Versorgung zu sichern, wenn alle Pkws in Vorarlberg gegen ein E-Auto getauscht würden. Es sind 70. Das Land Vorarlberg will allerdings keine Windkraftanlagen errichten oder betreiben. Einer Studie zufolge wäre dies nur auf 4,3 Prozent der Landesfläche technisch und topografisch möglich.

Die von Pensionist Zeiner angesprochenen Politiker sind zum Teil auch gekommen. Vor allem die Grünen, die ebenfalls gegen diese Variante der S18 sind. Mit Daniel Zadra sitzt ein Lustenauer in der Landesregierung, seine Parteikollegin Christine Bösch-Vetter sitzt im Landtag und kommt ebenfalls aus der Gemeinde an der Grenze zur Schweiz. Vertreter der anderen Parteien fallen am Sonntag durch ihre Abwesenheit auf. Weder der Bürgermeister noch Gemeinderäte von ÖVP, FPÖ, Neos oder SPÖ sind gekommen. Letztere drei Parteien haben unlängst auch gegen die Abhaltung der Volksbefragung gestimmt.

Kampfeslust

Die Abwesenheit vieler Politiker scheint beim Riedfest die meisten Besucher – und Veranstalter – aber nicht zu stören. Nachdem "die da oben" jahrelang nichts zustande gebracht haben, sollen jetzt "wir, die vielen" im Zentrum stehen – so lautet der Tenor, zumindest auf der kleinen Bühne für Vorträge. "Wichtig ist, dass ihr euch seht und kennenlernt und vernetzt", sagt dort zum Beispiel Andreas Postner, ein Architekt, der seit Jahren gegen die S18 kämpft. Wenn man ihm zuhört, dann will er das auch in Zukunft tun. Feierstimmung kommt bei ihm keine auf: "Wir werden diesen Kampf bis zum Ende fortsetzen, und zwar mit tiefer Überzeugung." (Lara Hagen, 18.9.2023)