Am Eröffnungstag der UN-Generalversammlung in New York waren wieder einmal alle Augen auf Wolodymyr Selenskyj gerichtet. Seine mittlerweile typische, in Olivgrün gehaltene Garderobe hatte den ukrainischen Präsidenten aus dem Meer aus dunklem Zwirn im großen Sitzungssaal am East River schon optisch hervorstechen lassen. Wo die Diplomatie scheitert, so die bekannte Botschaft an die versammelten Staats- und Regierungschefs der Welt, ist für feine Anzüge kein Platz.

Hatte Selenskyj im vergangenen Jahr der Generalversammlung noch per voraufgezeichneter Videoschaltung ins Gewissen geredet, richtete er seine Worte diesmal persönlich an die angereisten Honoratioren aus rund 150 Ländern, die seit Dienstag in der 50 mal 35 Meter großen General Assembly Hall an der United Nations Plaza im Osten Manhattans tagen.

Selenskyj
Wolodymyr Selenskyj wollte von seinem ersten persönlichen Auftritt vor der UN-Generalversammlung seit Kriegsbeginn mehr mitnehmen als Schulterklopfen und freundliches Händeschütteln.
EPA/JUSTIN LANE

Das wichtigste strategische Ziel des Gasts aus Kiew war schon vor seiner Rede festgestanden: jene Länder vor allem im Süden, die dem Kampf der Ukraine bislang skeptisch oder indifferent gegenüberstehen, auf seine Seite zu ziehen.

Anders als etwa auf den Nato- oder G7-Treffen, wo es Selenskyj zuletzt mit Kolleginnen und Kollegen zu tun hatte, die seine Appelle weitgehend teilen, saß ihm am Dienstag nämlich ein weit heterogeneres Publikum gegenüber, als er gegen 14 Uhr New Yorker Zeit an das berühmte Rednerpult trat. Entsprechend eindringlich erinnerte der ukrainische Präsident dann auch an gemeinsame Bedrohungen, etwa die Gefahr eines Atomschlags durch Russland: "Das bedroht nicht nur die Ukraine, sondern Sie alle."

"Nahrung als Waffe"

Vor allem die Länder des Globalen Südens wollen von dem Schulterschluss gegen Russland, den Selenskyj sich wünscht, bisher nämlich nichts wissen. Nicht unbedingt, weil sie die Politik des Kreml unterstützen, sondern weil ihre Prioritäten andere sind: wirtschaftliche Entwicklung etwa oder die Klimakatastrophe, die sich in Ländern Afrikas, Südamerikas und Asiens schon heute bemerkbar macht.

Wohl auch deshalb erinnerte Selenskyj in seiner vergleichsweise knappen Rede an die Bemühungen seines Landes, trotz der Blockade durch Russland Getreide zu exportieren. Schließlich, so Selenskyj mit Blick auf Länder in Afrika, missbrauche Moskau Nahrung als Waffe, im Gegenzug für "eure Akzeptanz" der von Russland annektierten Gebiete. Man müsse jetzt zusammenhelfen und Russland besiegen, um sich dann den "globalen Herausforderungen" widmen zu können. Kiew bereite zudem einen globalen Friedensgipfel vor, zu dem jedes Land eingeladen sei, "das keine Aggressionen toleriert".

Uno Versammlung
Nach der Uno-Versammlung in New York steht Selenskyj noch ein Besuch bei US-Präsident Joe Biden in Washington bevor.
AFP/BRYAN R. SMITH

Ob Selenskyjs Charmeoffensive im Globalen Süden verfängt, ist unklar. Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva hatte sich zuvor gute zwanzig Minuten Zeit gelassen, bevor er die Ukraine in einem Nebensatz erwähnte. Auch US-Präsident Joe Biden, der dem Protokoll entsprechend nach Lula als Zweiter an das Rednerpult trat, schien die Signale des Südens gehört zu haben: Erst gegen Schluss kam er auf die Ukraine zu sprechen – mit Vehemenz: "Die Welt muss der nackten Aggression heute entgegentreten, um andere potenzielle Aggressoren von morgen abzuschrecken."

Selenskyj begibt sich dieser Tage nicht nur in New York, sondern auch bei Biden in Washington auf eine heikle diplomatische Gratwanderung. Kurz vor dem Beginn eines, wie sich abzeichnet, polarisierten Wahlkampfs will er die US-Öffentlichkeit davon überzeugen, dass sich die milliardenschwere Hilfe für die Ukraine auch weiterhin auszahlt. Vor allem unter skeptischen Republikanern im Kongress muss er die Werbetrommel rühren.

Wurde er im vergangenen Dezember nach der Befreiung Chersons und der Region um Charkiw durch seine Armee im Kongress wie ein Held gefeiert, wird nun erwartet, dass er bei seinem Besuch in der US-Hauptstadt am Donnerstag leisere Töne anschlägt. Damals hatte er den Abgeordneten eine ukrainische Fahne ausgehändigt, die von den Verteidigern der Frontstadt Bachmut unterschrieben war.

Solche Trophäen dürfte Selenskyj diesmal nicht im Gepäck haben. Die lange erwartete – und vom Westen mit Waffenlieferungen spät, aber doch unterstützte – Gegenoffensive seiner Armee geht langsamer voran, als viele erhofft hatten. Auch deshalb befürchtet Kiew zunehmende Ungeduld aufseiten seiner westlichen Verbündeten.

Eklat im Vorjahr

Ob Selenskyj – oder ein ukrainischer Vertreter – am Mittwoch bei der im New Yorker UN-Gebäude tagenden Sitzung des Sicherheitsrats den Raum verlässt, wenn Russlands Delegierter dort auftritt, war am Dienstag noch unklar. Im Vorjahr sorgte der russische Außenminister Sergej Lawrow für einen Eklat, weil er nach einer martialischen Rede aufstand und wortlos ging.

Bundespräsident Alexander Van der Bellen wohnte der Rede Selenskyjs im großen Sitzungssaal der UN bei. Zuvor hatte er den Wortführer des Globalen Südens, Brasiliens Präsidenten Lula, zu einem Gespräch getroffen. Gemeinsam mit Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) stand am Eröffnungstag außerdem ein Treffen mit UN-Generalsekretär Guterres auf dem Programm. (Florian Niederndorfer aus New York, 19.9.2023)