Normalerweise boosten Impfungen das Immunsystem. Sie trainieren es, indem sie ihm helfen, einen gefährlichen Virus oder Keim zu erkennen und auf verschiedenste Arten unschädlich zu machen. Eine "inverse Impfung" macht das Gegenteil: Sie will das Immunsystem dazu bringen, nicht aktiv zu werden gegen harmlose körpereigene Moleküle und diese zu tolerieren. Denn die fehlende Toleranz ist das Problem bei Autoimmunerkrankungen wie Multipler Sklerose (MS), Lupus, Typ-I-Diabetes und rheumatoider Arthritis. Die T-Zellen – neben den Antikörper-produzierenden B-Zellen die zweite wichtige Säule des erworbenen Immunsystems – attackieren Strukturen von gesunden Körperzellen, im Fall von MS die schützende Myelinschicht rund um Nerven.

Spritze und Impfstoff
Experimente mit Impfungen gegen Autoimmunerkrankungen zeigten erste Erfolge – zumindest im Tiermodell.
Jose Luis CARRASCOSA via www.ima

Das erworbene Immunsystem, das im Gegensatz zum angeborenen Immunsystem sehr anpassungsfähig und trainierbar ist, hat einen Toleranzmechanismus entwickelt, der ihm erlaubt, unschädliche Partikel, die etwa über die Nahrung in die Leber gelangen, als harmlos zu markieren. Genau diesen Mechanismus nutzten Forscher der Pritzker School for Molecular Engineering an der University of Chicago, um in einem Mausmodell eine Toleranz gegen körpereigene Strukturen zu entwickeln, die durch eine fehlgeleitete Autoimmunreaktion angegriffen werden.

Krankheitssymptome gingen zurück

In der Studie, die kürzlich im Fachmagazin "Nature Biomedical Engineering" erschien, koppelten die Forschenden rund um Jeffrey Hubbell ein Antigen, das fälschlicherweise vom Immunsystem attackiert wird, mit dem Zuckermolekül pGal, das die Leber als "freundlich" erkennt, und injizierten es Mäusen. Das Antigen bekam so gewissermaßen das Label "Nicht angreifen".

Die Ergebnisse sind "beeindruckend", bestätigt Nicole Boucheron vom Zentrum für Pathophysiologie, Infektiologie und Immunologie der Med-Uni Wien, die nicht an der Studie beteiligt war. Die Chicagoer Forscher verwendeten ein etabliertes Modell für MS und behandelten die Mäuse mit einem Myelin-Protein, das mit pGal gekoppelt war. Die Tiere, die am selben Tag beziehungsweise drei und sechs Tage nach der Induktion mit der Krankheit geimpft wurden, zeigten einen vollständigen Schutz vor der Krankheit.

Erstmals konnte außerdem gezeigt werden, dass eine derartige Behandlung auch nach dem Ausbruch der Krankheit greift. Tiere, die am fünften Tag nach der Induktion mit der Krankheit immunisiert wurden, zeigten eine sehr niedrige Krankheitsaktivität. Bei Tieren, die nach Tag 7 behandelt wurden, gingen die Autoimmunreaktionen deutlich zurück. Auch bei Mäusen mit der schubförmigen Variante von MS konnte die Impfung einen Rückfall während der 50-tägigen Studie verhindern. Den Autoren zufolge stoppte das Immunsystem nach der Impfung die Attacken auf Myelin, wodurch Krankheitssymptome wie Mobilitätsprobleme, Lähmungen und Sehverlust zurückgingen.

"Heilung möglich"

Um den Ansatz der "inversen Impfung" auch an Primaten zu testen, erprobten die Forschenden die Wirksamkeit einer pGal-Kopplung an ein Antigen des Affen-Immundefizienz-Virus (SIV), das im Tiermodel für die Erforschung von Impfungen gegen das HI-Virus verwendet wird. Die Immunreaktion konnte erfolgreich für mindestens 13 Wochen verhindert werden, was die Wirksamkeit der neuen Therapie auch bei Affen und potenziell beim Menschen voraussetzt.

"Ich sehe großes translationales Potenzial in dieser Forschungsarbeit, auch weil hier schon an verschiedenen Spezies gearbeitet wurde", sagt Nicole Boucheron von der Med-Uni Wien. "Insbesondere bei MS, wo man die Mechanismen schon besser kennt, ist eine Übertragung auf den Menschen denkbar. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass daraus eine neue Therapie entsteht, die auch greifen kann. Denn erstmals wurde experimentell gezeigt, dass nicht nur eine präventive Behandlung, sondern auch nach Ausbruch der Krankheit eine Heilung möglich ist." Zurückzuführen sei das auf die Anpassungsfähigkeit des erworbenen Immunsystems, das so etwas wie ein Gedächtnis besitzt. "Und dieses Gedächtnis lässt sich auch umprogrammieren", sagt Boucheron.

Verschiedene Ansätze nötig

Noch ist aber nicht restlos erforscht, warum es überhaupt dazu kommt, dass T-Zellen Amok laufen und den eigenen Körper bekämpfen. Auch ist bei den verschiedenen Autoimmunerkrankungen nicht immer klar, welche körpereigenen Strukturen überhaupt angegriffen werden und welche die Hauptantigene sind, betont Boucheron. In ihrer aktuellen Forschung versucht sie mehr über die Mechanismen herauszufinden, wie die T-Zellen auf Abwege kommen. In Zusammenarbeit mit der Forschungsgruppe rund um Ruth Herbst von der Med-Uni untersuchten sie und ihr Team die mögliche Rolle eines spezielles Proteins bei der Entstehung von rheumatoider Arthritis. Die Ergebnisse erschienen kürzlich im "Journal of Experimental Medicine".

Neue Ansätze wie eine Impfung gegen Autoimmunerkrankungen oder auch das Einschleusen von künstlichen sogenannten Car-T-Zellen, die bereits Erfolge bei der Heilung von Lupus gezeigt haben, basieren auf jahrzehntelanger Grundlagenforschung, betont die Forscherin. Aufgrund der Komplexität der Krankheitsbilder brauche es jedenfalls verschiedenste Herangehensweisen.

Bis eine "inverse Impfung" aktuelle MS-Therapien, die mit einer Unterdrückung des Immunsystems einhergehen, ablösen könnte, ist es noch ein weiter Weg. Aber erste klinische Studien sind bereits in Vorbereitung. Eine Phase-I-Sicherheitsstudie mit einer pGal-Verbindung wurde bereits mit Zöliakie-Patienten durchgeführt, eine solche Studie für Menschen mit MS folgt als Nächstes. "Aktuelle MS-Therapien ermöglichen ein Zusammenleben mit der Krankheit", fasst Boucheron zusammen. "Wenn das Immunsystem korrekt programmiert werden könnte, würde das eine Chance auf Heilung versprechen." (Karin Krichmayr, 20.9.2023)