Der Wiener Lehrer soll nicht nur Missbrauchshandlungen an Schülern im Rahmen von Schulevents gesetzt haben, sondern auch als Betreuer in einem Sommerferiencamp. Eine entsprechende Anzeige aus dem Jahr 2013 ging aber verloren.
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Ein junger Erwachsener erstattet im Juli 2013 eine Missbrauchsanzeige. Er gibt vor der Polizei an, dass er im Jahr 2006 als Kind einen sexuellen Übergriff durch einen Ferienhortbetreuer im Sommercamp erlebt hat. Die Anzeige wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen wird aufgenommen. Diese verschwindet aber: Zu Ermittlungen gegen den Pädagogen, der in Wien als Sportlehrer in einer Mittelschule tätig ist, kommt es nicht. Erst 2019 – sechs Jahre nach der ersten Anzeige – stellt sich nach einer weiteren Missbrauchsanzeige heraus: Der Lehrer soll in einem Zeitraum von 15 Jahren dutzende Buben missbraucht haben.

Was klingt wie ein Drehbuch zu einem Hollywoodthriller, ist Realität. Der beliebte Wiener Pädagoge soll zahlreiche Schüler auch mittels von K.-o.-Tropfen missbraucht sowie kinderpornografisches Material angefertigt haben. Ins Rollen kam der Fall erst Anfang 2019: Da wurde laut Polizei nach einer Anzeige eine Hausdurchsuchung durchgeführt, bei der auf gleich sieben Datenträgern – teils mit beträchtlichem Speicherplatz – zahlreiche explizite Fotos und Videos von Buben gefunden wurden. Der Lehrer beging kurz vor seiner geplanten Befragung durch die Polizei im Mai 2019 Suizid. Die Staatsanwaltschaft Wien stellte daraufhin ihre Ermittlungen wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Unmündigen sowie Herstellung und Besitzes von kinderpornografischem Material ein. Ein Untersuchungsbericht einer Kommission unter Federführung der Wiener Bildungsdirektion, der im Dezember 2022 veröffentlicht wurde, kam zum Schluss, dass "die Existenz von 40 Opfern belegt" ist. 25 von sexuellem Missbrauch Betroffene sind laut dem Bericht bekannt. 15 weitere, die auf Fotos und Videos zu sehen sind, konnten bisher nicht identifiziert werden.

Sportlehrer war auch Betreuer in Sommercamps

Nach STANDARD-Recherchen gab es aber tatsächlich schon im Jahr 2013 in Niederösterreich eine erste Missbrauchsanzeige gegen den Pädagogen: Der sexuelle Übergriff soll sich im Jahr 2006 in einem großen Ferienhort im Bundesland Salzburg ereignet haben, wo der Wiener Sportlehrer in den Sommerferien jahrzehntelang als Betreuer für Kinder und Jugendliche tätig war. Der ehemalige Campteilnehmer war damals 13 Jahre alt. Die Anzeige stellte er sieben Jahre später als junger Erwachsener: Dass die Handlungen im Rahmen einer Massage als sexuelle Übergriffe zu werten sind, sei ihm erst Jahre später bei einer Therapiesitzung bewusst geworden, sagte er dem STANDARD. Nachforschungen zeigten aber, dass die Anzeige zu keinen Ermittlungen geführt hat. Sie verschwand.

Aufklärung darüber, wie die Anzeige verschwinden konnte, gibt es bis heute nicht. Die zuständige Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt führte zwar auf Bestreben von Opferanwältin Herta Bauer ein Ermittlungsverfahren durch. Diese kam aber zu folgendem Schluss: "Weshalb oder an welcher Stelle der Originalakt in Verstoß geriet, war in Anbetracht der verstrichenen Zeit sowie der zwischenzeitlich erfolgten Skartierung (Aktenvernichtung, Anm.) der Gleichschriften (vermutlich nach fünf Jahren) nicht mehr aufzuklären." Das Ermittlungsverfahren gegen zwei Polizeibeamte wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch wurde Anfang September eingestellt, wie Sprecher Erich Habitzl auf Anfrage mitteilte. Übrig bleibe damit die Erkenntnis, dass eine Missbrauchsanzeige in Österreich einfach so verschwinden kann – und es dafür auch keine Konsequenzen gibt, wie Anwältin Bauer kritisiert. Erschwerend komme bei diesem Fall dazu, dass der Missbrauchskomplex um den Wiener Pädagogen sechs Jahre früher hätte aufgedeckt werden können.

Verlust der Anzeige auf dem Postweg "nicht auszuschließen"

Die Rekonstruktion rund um die versandete Anzeige sieht laut Staatsanwaltschaft jedenfalls so aus: Am 8. Juli 2013 wurde von einem Polizeibeamten in Niederösterreich ein Vernehmungsprotokoll durchgeführt, in dem das Opfer einen Verdacht auf schweren sexuellen Missbrauch geäußert hat. Die Dienststelle des Polizeibeamten verständigte daraufhin das Landeskriminalamt Niederösterreich. Weil der Tatort in Salzburg oder Oberösterreich lag, wurde die Anzeige "im Wege der Postversandstelle" an das örtlich zuständige Landeskriminalamt weitergeleitet. "Bei diesen Dienststellen langte der Originalakt (Vernehmungsprotokoll samt Begleitschreiben) jedoch niemals ein", heißt es in der Einstellungsbegründung, die dem STANDARD vorliegt. Die beschuldigten Polizeibeamten haben demnach weder gebotene Amtshandlungen unterlassen noch pflichtwidrige Handlungen gesetzt oder Vorschriften missachtet. "Ein Verlust der Anzeige auf dem Postweg" sei laut Staatsanwaltschaft "nicht auszuschließen".

Mit der Einstellung steht fest, dass rund um den Missbrauchskomplex des Wiener Pädagogen derzeit keine weiteren Ermittlungen laufen. Das bestätigte die Staatsanwaltschaft Wien. Die Causa ist vorerst abgeschlossen. Mehrere Sachverhaltsdarstellungen der Bildungsdirektion Wien sowie von Opferanwältin Bauer – unter anderem wegen möglicher Mittäter, Begünstigung, sittlicher Gefährdung, Nötigung oder Amtsmissbrauchs – führten laut Staatsanwaltschaft mangels Anfangsverdachts bisher zu keinen Ermittlungen.

Zurück bleibt, dass der Wiener Lehrer jahrelang unentdeckt seine Missbrauchshandlungen an ihm anvertrauten Minderjährigen setzen konnte. Opferanwältin Bauer spricht von einem "Systemversagen" aller beteiligten Behörden – angefangen von der Schule und der Wiener Bildungsdirektion. "Hier wurde nur geschlampt und vertuscht." Irritierend ist etwa ein vom betroffenen Pädagogen gestaltetes Fotobuch mit dem Namen "Meine Klasse 2008–2012" mit hundert Fotos. Dieses Buch haben Schüler beziehungsweise Eltern nach dem Schulabschluss vom Sportlehrer ausgehändigt bekommen: Darauf zu sehen sind zahlreiche verstörende Bilder halbnackter Buben – auch in der Sauna oder in der Dusche im Rahmen von Schulveranstaltungen. Teils ist der betroffene Pädagoge mit abgebildet. Schüler wurden auch nur mit Unterhose bekleidet und mit gespreizten Beinen abgelichtet. Für Aufsehen in der Schule haben die Fotos jahrelang nicht gesorgt. (David Krutzler, 21.9.2023)