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Wer hat Angst vor dem schwarzen Hund? Louis-Ferdinand Céline (1894-1961), furioser Prosaautor und widerwärtiger Antisemit, hier etwa 1955 aufgenommen.
Bernard Lipnitzki / Roger Violle

Eine stetig wachsende Zahl literarischer Werke wird immer eingehender auf Herz und Nieren geprüft. Soeben hat ein unwiederbringlich verloren geglaubter Text des weltberühmten Franzosen Louis-Ferdinand Céline (1894–1961) auf Deutsch das Licht der Welt erblickt.

Krieg nimmt sich wie ein Nachklapp aus zu den großen Céline-Epen wie Reise ans Ende der Nacht und Tod auf Raten: furios funkelnde, dabei schnoddrige Prosa. Sie macht, aus Anlass eines Lazarettaufenthalts im Ersten Weltkrieg, aus ihrem Hass auf die zersetzende Wirkung von Krieg und Korruption auf die menschliche Psyche kein Hehl.

Die Freude, den unbequemen Text eines Anti-Moralisten für den Kanon zurückgewonnen zu haben, wird der Literaturkritik kaum zugestanden. Gleich nach der Inhaltsangabe von Krieg folgt in den allermeisten Rezensionen eine Flut von Warnhinweisen.

In der Tat: Der praktizierende Arzt und Argot-Dichter Céline war im wirklichen Leben ein widerwärtiger Antisemit. Ihm konnte es, traut man einer Vielzahl von Äußerungen, mit der Vernichtung der Juden in Frankreich und schließlich in Europa gar nicht schnell genug gehen. Ein nachsichtiges Schicksal hat die heimischen Leserinnen und Leser vor einer Eindeutschung seiner diesbezüglichen Pamphlete bewahrt. Was keinesfalls zur Klärung der Frage beiträgt, ob das Romanwerk, da sein Urheber ruchlos war, nicht für alle Zeiten kompromittiert erscheint.

Von Ekel gepeinigt

Im Fall Célines hat man sich, wohl auch aus Gründen der Nützlichkeit, für eine getrennte Buchführung entschieden. Der eine Céline wird als der Verächter der Herdenmoral geduldet. Diese führt schnurstracks in den Bankrott, und diesen schildert der Chronist "unverblümt", von Ekel gepeinigt und von einer gewissen Schadenfreude erfüllt. Der andere Céline ist des Dichters reales Pendant – der cholerische Zwillingsbruder, den man in der Klapsmühle versteckt hält, dessen Existenz man bei geselligen Zusammenkünften lieber verschweigt. Das rabenschwarze Schaf in einer Lämmerherde Gutwilliger.

Doch die Frage nach der "Eigenständigkeit" moderner Kunst und Dichtung ist verwickelter. Übergangen wird der Eigensinn, der die Schöpfer von Literatur auszeichnet. Ihn geben sie an ihr Werk weiter. Und ab der Drucklegung befindet sich dieses nicht mehr in ihrem alleinigen Besitz.

Nicht ohne Grund hat moderne Literatur- und Kunstkritik seit den Tagen Theodor W. Adornos, also seit den 1950ern, die Frohbotschaft von der Widersetzlichkeit der Künste gepredigt. Was an der Welt ungerecht und unerträglich ist, soll wenigstens in den neuen Kunstwerken Aufnahme finden. Deren Gehalt wird durch "die autonome Durchformung des literarischen Ausdrucks" vermittelt. Nur ein Tölpel meint, alles Unrecht könne unverfälscht wiedergegeben werden: eins zu eins, durch brave, notabene beflissene Schilderung.

Wider die Meterware

Der Glaube an die notwendige Entzifferung von Sprachkunstwerken hat sich verflüchtigt. Gewichen ist er einem "bloßen Mitplätschern mit dem Strom von Sprache", wie Adorno die gefällige Aufnahme literarischer Meterware einmal nannte. Ungleich wesentlicher war in der Moderne der "Schock", mit der ein – womöglich komplizierter – Text das folgenlose Funktionieren der Kommunikation unterbrechen half.

Alle Konventionen des Ausdrucks sollten unaufhörlich neu überprüft werden. Und das Gelingen keines Sprachkunstwerkes kann allein davon abhängig gemacht werden, ob sein Urheber, seine Urheberin eine Persönlichkeit von aufrechter Gesinnung und von untadeligen Grundsätzen sei. Dergleichen nannte man früher die "Autonomie" der Kunst. Auf sie gilt es zu pochen. Sei die Agenda eines literarischen Textes nun straight, liberal, posttoxisch oder queer. (Ronald Pohl, 22.9.2023)