Miriam Beller und Paul Krisai
Miriam Beller und Paul Krisai schreiben über sichtbare und unsichtbare Gefahren wie Zensur und Justizwillkür.
Wack, Patrick/Inland

"Der Krieg beginnt und nichts ist wie zuvor" von Paul Krisai

Der Krieg beginnt an einem Donnerstag. Kurz nach sechs Uhr morgens Moskauer Zeit reißt mich das Klingeln meines Telefons aus dem Schlaf. Auf dem Display leuchtet die Nummer der Redaktion in Wien. Ein Anruf der Kollegen um diese Uhrzeit ist meistens ein schlechtes Zeichen. "Es hat angefangen", sagt die Stimme am anderen Ende der Leitung, und der Kollege zählt hastig auf: Putin ist mit einer Kriegserklärung aufgetreten, es gibt Explosionen in Mariupol, Charkiw, Kiew und anderen Städten in der gesamten Ukraine, die Lage ist unübersichtlich.

Was der Kollege erzählt, klingt nach dem, was seit Wochen viele befürchtet und die wenigsten geglaubt haben: Russland hat offenbar einen großflächigen Angriff auf die Ukraine begonnen. Das Ausmaß ist mir zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht klar. Mit der Redaktion vereinbare ich den Ablauf der nächsten paar Stunden: Schaltung in der ersten Radionachrichtensendung um sechs Uhr Wiener Zeit, dann im Radio- Morgenjournal um sieben Uhr und direkt danach in der Frühausgabe der Zeit im Bild-Fernsehnachrichten. Während ich mich auf den Weg ins Büro mache, vibriert mein Handy im Stakkato der Eilmeldungen: russische Fallschirmspringer in Odessa gelandet, Ukraine hat Kriegszustand ausgerufen und Generalmobilmachung angeordnet, Berichte über erste Todesopfer. Was ich da ungläubig lese, sieht nicht nach einem Einmarsch russischer Truppen in den Donbass aus, mit dem seit Tagen zu rechnen war, sondern nach einem vollständigen Angriff auf das gesamte Nachbarland.

Livestudio im Hotelzimmer

Zum Nachdenken bleibt keine Zeit. Ich rufe meine Kollegin Miriam an. Sie ist in diesem Moment zufällig viel näher am Kampfgeschehen als ich – erst am Vorabend ist sie mit ihrem Kameramann in Rostow am Don in Südwestrussland gelandet, nur hundert Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt. Dort wollte sie einen Beitrag über die mutmaßliche Zwangsevakuierung der ukrainischen Bevölkerung filmen. Die russischen Behörden haben den ORF und andere internationale Medien zu einem Pressetermin in ein Flüchtlingszentrum eingeladen – ausgerechnet für den Nachmittag des 24. Februar. Zu diesem Dreh wird es nicht mehr kommen.

"Miriam, der Krieg hat angefangen", sage ich atemlos in den Hörer. An ihrer Stimme erkenne ich, dass sie seit ihrem Nachtflug nur wenig geschlafen hat. Ohne viel zu erklären, bitte ich sie, sich mit ihrem Kameramann eine sichere Position für Liveschaltungen zu suchen, vorzugsweise in einem geschützten Innenraum. "Oh mein Gott", schreibt Miriam wenige Minuten später per Whatsapp, nachdem sie die ersten Nachrichtenmeldungen gelesen hat, "das ist ja die ganze Ukraine! Haben uns ein Livestudio im Hotelzimmer eingerichtet."

Endlosschleifen

Mein Adrenalinspiegel steigt, als ich den Lift in unserem grauen Bürogebäude zwei Kilometer südlich des Moskauer Kremls betrete. Vom Spiegel an der Wand starrt mir ein kreidebleiches Gesicht entgegen. Ich zücke mein Handy und nehme ein kurzes Video auf, um den Moment für später zu dokumentieren: "Guten Morgen", sage ich mit kratziger Stimme, "es ist sieben Uhr am 24. Februar 2023 –" Ähm, 2023? Kurzes Kopfschütteln. Warum ich mich ausgerechnet im Jahr irre, wundert mich in diesem Moment selbst. Es ist wohl Ausdruck des allgemeinen Chaos an diesem Donnerstagmorgen. Oder gar ein Vorbote für die Zeitenwende, die bevorsteht? Ich setze neu an: "Es ist der 24. Februar 2022. Putin hat in der Nacht angekündigt, eine Militäroperation gegen die Ukraine zu starten." Pause. Tiefes Durchatmen. "Es gibt Krieg. Wir werden jetzt stündlich in Liveschaltungen versuchen, die unübersichtlichen Ereignisse irgendwie einzuordnen." Mein Gesichtsausdruck im Video wirkt, als hätte man mich gerade aufgeweckt, auf ein Zehn-Meter-Brett gestellt und mir befohlen, mit verbundenen Augen ins Wasser zu springen. In weniger als einer Stunde muss ich live meinen ersten Lagebericht abgeben.

Ich schalte hastig Computer, Radio und Fernseher ein und sehe Putins frühmorgendliche TV-Ansprache, die im staatlichen Nachrichtensender Rossija 24 in Endlosschleife wiederholt wird: Zwischen zwei Russland-Fahnen sitzt mit eisiger Miene der Präsident an einem Schreibtisch, die linke Hand eigenartig an die Tischplatte geklemmt, die rechte hebt er beim Gestikulieren ab und zu leicht an. Putin spricht unruhig, mit künstlichen Pausen, immer wieder verdunkelt sich sein Blick. "Ich habe die Entscheidung getroffen, eine spezielle Militäroperation durchzuführen. Ziel ist es, die Menschen zu schützen, die acht Jahre lang unter den Misshandlungen und dem Völkermord durch das Kiewer Regime gelitten haben." Diese von Putin oft wiederholten Anschuldigungen eines angeblichen Völkermords seitens der ukrainischen Truppen im Donbass werden von unabhängigen Quellen nicht gestützt. Das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte sieht in seinem Bericht vom September 2021 keine Anzeichen für einen Genozid. Zum selben Befund kommt die OSZE-Beobachtermission, die seit 2014 – wohlgemerkt mit russischer Zustimmung – die Lage beiderseits der Frontlinie in der Ostukraine beobachtet. Putin schließt die Kriegserklärung mit einer Drohung an alle Staaten, die die Ukraine unterstützen: Wer versuche, Russland zu stoppen, müsse mit einer sofortigen Reaktion rechnen und mit Konsequenzen, wie es sie "noch nie zuvor in der Geschichte" gegeben habe. Die Botschaft ist klar: eine unverhohlene Drohung mit dem russischen Atomwaffenarsenal an alle, die sich in den Krieg militärisch einmischen. Es wird nicht die letzte Drohung dieser Art sein.

Ausnahmezustand

Die nächsten Stunden fühlen sich an wie ein Wirbelsturm, der uns einsaugt, hin und her beutelt, auf den Kopf stellt, mit Nachrichten und Meldungen bewirft und am Abend wieder ausspuckt. Schaltgespräch folgt auf Schaltgespräch, ich verlasse zum Teil das Livestudio zwischen den Einstiegen gar nicht und arbeite, verkabelt und eingeleuchtet, auf der Liveposition weiter. Es geht darum, zu funktionieren. Das Adrenalin dürfte eine wichtige Rolle dabei spielen, dass die Konzentrationsfähigkeit auch nach fünfzehn Stunden unverändert hoch bleibt. Wenn ich in diesen Stunden eines spüre, dann ist es eine klare Mission: zu erzählen, was wir wissen und was wir nicht wissen. Auch im ORF-Zentrum in Wien herrscht an diesem Tag Ausnahmezustand, mit stundenlangen Sondersendungen zum Krieg, die zu einem großen Teil von den Korrespondentinnen und Korrespondenten in der Ukraine, in Russland und dem Rest der Welt gefüllt werden.

Während ich von Moskau aus die Meldungslage sortiere, schaltet sich Miriam regelmäßig aus dem rund tausend Kilometer entfernten Rostow am Don zu und schildert ihre Beobachtungen: Kampfjets donnern über ihren Kopf hinweg, als sie mit ihrem Kameramann einen Stadtrundgang macht. Entlang des Grenzstreifens zur Ukraine, zweieinhalb Stunden von Rostow entfernt, gibt es bereits Meldungen über Einschläge auf russischem Boden.

Die russischen Behörden sperren den Luftraum in allen an die Ukraine angrenzenden Regionen – auch der Regionalflughafen von Rostow am Don ist vorübergehend geschlossen. Am Vortag mit der Abendmaschine gelandet, werden Miriam und ihr Kameramann die Rückreise später per Auto antreten müssen. Denn auch alle Zugverbindungen sind ausgebucht. Offenbar versuchen viele Menschen, die Grenzregion zu verlassen.

Paul Krisai
Paul Krisai, geb. 1994, studierte Journalismus. Seit 2019 ist er Korrespondent im ORF-Büro Moskau, das er seit 2021 leitet. Im Oktober kehrt er nach Wien zurück. 2022 wurde er mit dem Robert-Hochner-Sonderpreis ausgezeichnet und zu Österreichs Journalisten des Jahres gewählt.
Fotos: Patrick Wack

"Im Exil: Auf der Flucht vor dem Regime" von Miriam Beller

Es ist 13 Uhr am 7. März 2022, ich sitze in dem in Blau gehaltenen Zeit im Bild-Studio in Wien der Moderatorin gegenüber. In Moskau blicke ich bei Liveschaltungen stets nur in das Schwarz der Kameralinse. Es ist eine schöne Abwechslung, die Kollegin persönlich zu sehen und nicht nur über den Knopf im Ohr zu hören. Erst am Vortag bin ich in Wien gelandet, nachdem wir als Büro Moskau gemeinsam mit der ORF-Zentrale entschieden haben, dass ich vorläufig von Österreich aus arbeiten soll, damit wir auf jeden Fall eine unabhängige Berichterstattung gewährleisten können, sollten die Zensurbedingungen in Russland zu einschränkend sein. In der mittäglichen Zeit im Bild-Sendung sprechen wir über die Proteste in Russland, die Auswirkungen der ersten Sanktionen und die neu eingeführte Militärzensur. Meine Eindrücke sind noch frisch, ich habe viel zu erzählen. Doch mit jedem Tag, den ich länger in Wien bin, habe ich das Gefühl, mehr und mehr den Anschluss an die Geschehnisse in Russland zu verlieren. Als sich abzeichnet, dass das ORF-Büro Moskau trotz Einschränkungen weiterarbeiten kann, plane ich meine Rückkehr. Im Hinterkopf bleibt aber immer die Frage, wie es wohl sein wird, auf Dauer unter der Militärzensur zu arbeiten und in der Berichterstattung auf jedes einzelne Wort achten zu müssen.

Miriam Beller
Miriam Beller, geb. 1988, hat Internationale Entwicklung studiert und berichtet seit 2021 als Korrespondentin für den ORF aus Moskau. 2022 wurde sie mit dem Robert-Hochner-Sonderpreis ausgezeichnet. Wie Paul Krisai kehrt sie im Oktober in die ORF-Zentrale zurück.
Fotos: Patrick Wack

Zufluchtsorte

Noch ist es aber nicht so weit: Bevor ich nach Russland zurückkehre, will ich die Möglichkeit nutzen, einen Zwischenstopp in Georgien einzulegen. Das Land im Südkaukasus hat sich innerhalb weniger Wochen zu einem Zufluchtsort für zehntausende Russinnen und Russen entwickelt. Sie alle treibt in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn die Angst, ja sogar die Panik um, dass Russland seine Grenzen schließen könnte und sie damit im Land eingesperrt wären. Viele von ihnen sind Aktivisten oder Journalisten, die wissen, dass die Aggression nach außen auch mit einer Repressionswelle nach innen einhergehen wird.

Wie viele Menschen Russland nach dem 24. Februar 2022 verlassen haben, lässt sich kaum beziffern, erklärt mir später der Moskauer Demograf Alexei Rakscha. Er geht davon aus, dass es allein im Jahr 2022 zwischen 350.000 und 600.000 waren. Während die einen die Landesgrenzen in die Nachbarländer Finnland oder Estland überqueren, fliegen andere in die Türkei, nach Zentralasien oder nach Armenien und Georgien. Die georgischen Behörden melden, dass im ersten Kriegsjahr mehr als 110.000 russische Staatsbürger ins Land gekommen sind, bei einer Gesamtbevölkerung von gerade einmal 3,7 Millionen. Tiflis, die Hauptstadt Georgiens, hat sich bereits vor dem Krieg zu einem Zentrum der russischen Exil-Opposition entwickelt.

Buchcover
Paul Krisai, Miriam Beller, "Russland von innen. Leben in Zeiten des Krieges". € 24,– / 192 Seiten. Zsolnay, Wien 2023 (das Buch erscheint am 25. 9.)
Zsolnay

Weg von der Unfreiheit

Als ich Ende März im frühlingshaften Tiflis ankomme, werde ich von einer Stadt in Gelb und Blau empfangen. Die Solidarität vor allem der jungen Georgierinnen und Georgier mit der Ukraine ist überwältigend. Überall wehen ukrainische Fahnen Seite an Seite mit den georgischen. Tiflis ist nicht einmal 170 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, trotzdem fühle ich mich hier weit weg von der Unfreiheit, die in Russland herrscht. An Hauswänden, auf Baustellen und überall, wo sich in den engen Gassen des Stadtzentrums Platz findet, haben Sprayer nicht gerade jugendfreie Slogans gegen den russischen Präsidenten und die russische Armee verewigt, "Fuck Putin" gehört noch zu den harmloseren. Während ich die vielen Flaggen, Plakate und Graffitis fotografiere, überlege ich bereits, ob ich sie vor meiner Rückreise nach Russland wieder löschen muss, um Probleme an der Grenze zu vermeiden.

Viele Menschen, mit denen ich in Tiflis spreche, fürchten vor allem in den ersten Tagen des Krieges einen Angriff Russlands auf Georgien, auch deshalb ist die Solidarität hier so stark ausgeprägt. "Wir wären die Nächsten gewesen, wenn Russlands Plan, Kiew innerhalb von wenigen Tagen zu erobern, aufgegangen wäre", zeigt sich eine junge Georgierin überzeugt, die ich auf einer belebten Straße im Zentrum von Tiflis anspreche. Die georgische Bevölkerung hat schon leidvolle Erfahrungen mit dem großen Nachbarn gemacht. Russland hält mit den Regionen Abchasien und Südossetien zwanzig Prozent des georgischen Staatsgebietes besetzt. Seit dem Kaukasuskrieg 2008 entziehen sich die Regionen der Kontrolle Georgiens, Russland stützt sie bis heute, politisch wie militärisch. Alle Menschen sind sich einig: Die Ukraine kämpft auch für die Freiheit und Unabhängigkeit Georgiens. Tausende gehen in Tiflis gegen den russischen Krieg auf die Straße, unter ihnen auch Russinnen und Russen, die weiß-blau-weiße Fahnen schwenken. Die Farben sind ein Gegenentwurf zu den russischen Nationalfarben Weiß-Blau-Rot und ein neu entstandenes Symbol für ein Russland, das so nicht existiert: demokratisch, frei und ohne Wladimir Putin.

Der Verhaftung entkommen

Bei meinem Besuch in Georgien spreche ich mit zahlreichen Russinnen und Russen, die ihre Heimat nach dem 24. Februar verlassen haben. Sie alle versuchen ihr Leben und ihre Arbeit in Tiflis neu zu ordnen. Einige besuche ich in noch fast leeren Wohnungen, weil sie gerade erst eingezogen sind und nur wenige Habseligkeiten mitnehmen konnten. Als ich Ruslan Lewijew in einer Wohnung im Zentrum von Tiflis treffe, sind die Möbel noch mit Plastikfolie überzogen. Der Blogger und Militärexperte hat Russland bereits am 3. März, nur eine Woche nach Kriegsbeginn, verlassen. Der 35-Jährige hatte allen Grund zur Eile. Lewijew arbeitete in der Vergangenheit unter anderem alsIT-Spezialist für den Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, mittlerweile untersucht er mit seinem unabhängigen Rechercheprojekt "Conflict Intelligence Team" das Vorgehen russischer Truppen in der Ukraine. Seine Arbeit ist unter der russischen Militärzensur streng verboten. Der Militärexperte ist schon lange im Visier der Behörden, siebenmal wurde er in den vergangenen Jahren festgenommen. Darüber hinaus erhielt er mehrmals Morddrohungen und wurde in Moskau auf der Straße einmal sogar körperlich angegriffen. "Ich stand schon früher unter Druck. Aber so schlimm wie jetzt war es noch nie. Wir haben deswegen unser Büro geschlossen, die Mitarbeiter evakuiert, und dann habe auch ich das Land verlassen. Einen Tag später standen Beamte des Inlandsgeheimdienstes FSB vor meiner Wohnungstür. Meine Freundin war zu Hause. Ihr sagten sie, dass sie mich verhaften würden, wenn ich zurückkomme." Wie viele andere Aktivisten und Aktivistinnen führt Ruslan Lewijew seine Arbeit im Exil fort. Er sammelt und analysiert Informationen über das Vorgehen des russischen Militärs. Er arbeitet mit sogenannter Open Source Intelligence, mit öffentlich verfügbaren Informationen aus Medien, Satelliten- und Luftaufnahmen. In einem auf Youtube veröffentlichten Interview spricht er über die Bombardierung des Atomkraftwerks Saporischschja am 4. März 2022 und sagt, Russland habe das Kernkraftwerk beschossen, nicht die Ukraine. Das genügt den russischen Behörden als Vorwand, um im Mai, in seiner Abwesenheit, seine Verhaftung anzuordnen. Ihm wird vorgeworfen, gefälschte Informationen über das russische Militär zu verbreiten. In Georgien ist er vorerst in Sicherheit. (Paul Krisai, Miriam Beller, 23.9.2023)