Arzt
Wer in Mistelbach wohnt und sich keinen Wahlarzt leisten kann, hat in Mistelbach ein Problem.
Mareen Fischinger via www.imago-

Vor 17 Jahren war es noch ganz einfach. Damals bekam Nathalie Stecher ihr erstes Kind. Sie meldete sich beim nächstgelegenen Kinderarzt mit Kassenvertrag, der die Tochter daraufhin als Patientin aufnahm. Beim Zweitgeborenen vor acht Jahren entschied sich die Familie für eine Betreuung durch den Hausarzt, weil das unkomplizierter zu handhaben war. Jetzt, mit Linda, knapp vier Monate alt, "ist es eine Katastrophe", sagt die 40-jährige Mutter. Der pausbäckige Rotschopf im Kinderwagen vor ihr kann aber nichts dafür.

Schuld ist die schlechte ärztliche Versorgung im Weinviertel, konkret im Bezirk und in der Stadt Mistelbach, wo die Stechers seit einem Jahr ein Geschäft betreiben. In ihrem Wohnbezirk Gänserndorf ist die Lage auch nicht besser. In beiden Bezirken ordiniert derzeit keine Kinderärztin und kein Kinderarzt mit einem Vertrag der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Insgesamt sind in Niederösterreich sieben von 43 Kassenstellen für Kinder- und Jugendheilkunde vakant.

Walter Schleger war 38 Jahre lang Arzt, Nachfolge fand er lange keine.
Heribert Corn

Kassenärztemangel

Der Kassenärztemangel, von dem in Österreich so oft die Rede ist, ist hier Realität – und das in einer Bezirksstadt mit rund 12.000 Einwohnern, die sogar wächst. In dieser Gegend sind sogar Wahlärzte überlastet. Die Stechers suchten schon vor Lindas Geburt einen Wahlkinderarzt, obwohl die Krankenkasse nur einen Teil des fälligen Honorars zurückerstattet. In Mistelbach, wo sie ihr Spezialitätengeschäft betreiben, nahm sie keiner auf.

Linda ist nun Patientin in einer Wahlkinderarztpraxis in Gänserndorf, mit dem Auto etwa eine halbe Stunde entfernt, sowohl vom Arbeits- als auch vom Wohnort. "Du bist jetzt echt am Arsch, wenn du dir keinen Wahlarzt leisten kannst", resümiert ihre Mutter Nathalie Stecher, brauner Bob, Brille mit Goldrand und Tattoo auf dem Oberarm.

Überlaufene Praxen

Eine der Wahlärztinnen der Stadt wäre zum Beispiel Eva Beran. "Ich könnte weit mehr Patientinnen und Patienten behandeln, als ich aktuell nehmen will", bestätigt die Kinderärztin, deren Praxis im Ortsteil Lanzendorf am Ende einer ruhigen Sackgasse liegt. Beran war Vollzeit im Spital tätig, wo sie jetzt noch stundenweise aushilft. Sie ist inzwischen vor allem niedergelassene Ärztin und seit kurzem Oma, wofür sie sich Zeit nehmen will.

Beran bemerkt eine große Nachfrage nach Kinderärztinnen und Kinderärzten in ihrer Stadt. Sie hat aber auch das Gefühl, dass bei den Menschen die Unsicherheit im Umgang mit Krankheiten und Wehwehchen gewachsen ist. "Früher haben sich die Menschen zu Hause besser zu helfen gewusst", sagt Beran. Außerdem seien Patienten fordernder geworden. Beobachtungen, die auch andere Ärztinnen und Ärzte teilen.

Der ausgedünnte niedergelassene Sektor schlägt voll auf die Spitalsambulanzen durch. Aus der Kinderabteilung des Landesklinikums Mistelbach, die mit Personalmangel kämpfen soll, ist zu hören, dass ständig Eltern mit ihren Kindern wegen banaler Infekte oder Zeckenbisse kämen. "Es bleibt einem ja nichts anderes übrig, als ins Spital zu gehen", befinden wiederum Bürgerinnen und Bürger.

Nathalie Stecher erlebte die Arztsuche für Baby Linda als "Katastrophe".
Heribert Corn

Fehlende Nachfolge

Seit Jänner arbeitet im Bezirk keine Kinderärztin mehr mit einem Vertrag bei der größten Krankenkasse, der Österreichischen Gesundheitskasse (ÖGK). Damals legte Daniela Kainz-Riegler ihren Vertrag zurück. Sie habe es sich nicht leicht gemacht, sie liebe ihren Job, aber das Patientenaufkommen sei zu groß geworden, begründet Kainz-Riegler ihren Schritt. Sie habe die ÖGK noch um Unterstützung gebeten, aber die habe keine Lösung gefunden. Seitens der ÖGK heißt es, man habe sich sehr bemüht. Eine Nachfolge fehlt bis heute. Die ÖGK verweist darauf, dass man mit Kindern auch zum Hausarzt gehen könne. Allerdings sind diese ebenfalls überlaufen.

Neben Kinderärztinnen und Dermatologen werden in der Stadt Allgemeinmediziner händeringend gesucht. Eine Zeitlang sah es danach aus, dass zwei von vier allgemeinmedizinischen Kassenordinationen vakant würden. Für eine wurde nach monatelangem Ringen eine Lösung gefunden.

Es ist jene von Walter Schleger. Er war 38 Jahre lang praktischer Arzt in Mistelbach – länger als geplant. An diesem sommerlichen Tag nippt der weißhaarige Arzt mit Brille mittags gemütlich im Gastgarten des Café Harlekin an einem Spritzer und tätschelt Hündin Nala, die sich an ihn kuschelt. "Am 30. September ist endgültig Schluss", sagt der 70-Jährige. "Sonst wär’s peinlich." Seine Patientinnen und Patienten hätten sich teils sehr emotional von ihm verabschiedet. Die Merci-Packungen stapelten sich hoch in der Praxis.

Einer suchte das Weite

Schleger ist noch bis Monatsende offiziell Praxisinhaber und betreut derzeit auch Pflegeheimbewohner. In der Ordination wird er aber von Ahmad Salem und Özkan Özdemir, zwei Spitalsärzten aus Wien, vertreten. Sie wollen eine Gruppenpraxis gründen. Dass er jetzt überhaupt Nachfolger hat, nachdem so lange keine in Sicht waren, hat wohl mit einer gewissen Hartnäckigkeit der Stadtpolitik und auch einer gehörigen Portion Glück zu tun.

Zunächst hatte der gebürtige Wiener aber Pech: Er war emotional der Pension schon nahe, als sein Kollege Oskar Kienast vor drei Jahren überraschend den Kassenvertrag zurücklegte. Der 56-Jährige nahm eine Ordination mit Hausapotheke im 25 Kilometer entfernten Hausbrunn, nahe der tschechischen Grenze, an. Patientenbehandlung wie am Fließband und "lächerliche Honorare" hätten ihn dazu bewogen, gibt Kienast an. Sein Kassenvertrag liegt seither brach. Mit Hausapotheken verfügen Ärzte über ein Zusatzeinkommen. Diese werden jedoch wegen des Gebietsschutzes für Apotheken nur an bestimmten Standorten gewährt – in Mistelbach nicht, da es dort Apotheken gibt.

Ortschef Erich Stubenvoll (ÖVP) ging "viele leere Kilometer".
Heribert Corn

Steiniger Weg in die Pension

Schleger wollte die Patienten nicht im Stich lassen und hielt weiter offen. Er hätte nicht gedacht, dass sein Ausstieg aus dem Arbeitsleben einmal so schleppend verlaufen würde. Als er seine Ordination im Weinviertel eröffnete, war vieles anders: "Damals hieß es noch ‚praktischer Arzt‘, und ich habe praktisch alles gemacht", auch kleine Hauttumore entfernt und Abszesse operiert, erzählt der Arzt. Mit den steigenden Anforderungen an die Hygiene und der Spezialisierung in der Medizin fielen diese Dinge nach und nach weg. Schleger meint, dass ein Hausarzt aber wieder mehr auf Kasse anbieten können sollte als derzeit, etwa Ultraschalluntersuchungen. Das würde Patienten Spitalsbesuche ersparen.

Schlegers Praxis liegt ein paar Gehminuten vom Mistelbacher Zentrum entfernt in einer Villa aus der Zeit der Jahrhundertwende. Vom Gartentor führt ein kleiner Weg an Hibiskussträuchern vorbei zu dem Haus mit der eierschalenfarbenen Fassade, in dem Schleger auch wohnt. Seine Nachfolger werden neue Räume beziehen. Ihr eigentliches Ziel wird aber noch längere Planung und dann einen weiteren Umzug brauchen: Die beiden wollen ein Primärversorgungszentrum (PVZ) eröffnen. Als Salem und Özdemir von der ÖGK wissen wollten, wo relativ nah an Wien dafür ein geeigneter Ort wäre, war die Antwort Mistelbach. So erzählt es Ahmad Salem am Telefon. Eine klassische Kassenpraxis zu übernehmen wäre für ihn keine Option gewesen, sagt der Wiener Arzt. Das sei unattraktiv aufgrund des veralteten Honorarsystems. Er hofft, dass das PVZ in spätestens zwei Jahren fertig ist, möglicherweise mit kinderärztlicher Verstärkung. In einem PVZ arbeiten Ärztinnen und Ärzte mit Pflege- und Therapiepersonal zusammen.

"Früher haben sich die Menschen zu Hause besser zu helfen gewusst." Kinderärztin Eva Beran

Diese Pläne würden dem Gesundheitsminister ins Konzept passen: Johannes Rauch (Grüne) will den Ausbau der PVZs in ganz Österreich forcieren und hat bis 2025 eine Verdreifachung dieser Zentren angekündigt. Dafür gibt es Fördergeld aus EU-Töpfen, und das Primärversorgungsgesetz wurde novelliert. Nun reichen zwei statt bisher drei Allgemeinmediziner für die Gründung aus. Außerdem können auch Kinderärzte Betreiber sein.

Seitens der Stadt gibt man sich erleichtert über die aktuellen Entwicklungen, aber auch noch abwartend, was die weiteren Zukunftspläne der neuen Ärzte betrifft. In den vergangenen Jahren sei er schon "viele leere Kilometer gegangen", um ein PVZ zu bekommen, beklagt Bürgermeister Erich Stubenvoll. Der 39-Jährige sitzt in seinem Büro im Rathaus im blütenweißen Hemd, der Leinenblazer baumelt vom Kleiderständer, ein Klimagerät brummt. "So viel, wie sich jetzt tut, hat sich die letzten drei Jahre nicht getan", sagt der ÖVP-Politiker, die blonden Haare spitzbübisch nach oben gegelt. Er ist vorsichtig geworden, aber dieses Mal könnten die Bemühungen wirklich Früchte tragen, hofft er.

Lange habe man Turnusärzte für den niedergelassenen Bereich "charmiert", aber ohne Erfolg. Das Land Niederösterreich versprach interimistisch Versorgungshilfe für die Stadt durch Vertreter eines "Ärztepools", doch dazu kam es nie. Schlussendlich habe sich die Gemeinde eine auf PVZs spezialisierte Firma beratend zur Seite geholt, das habe zum Erfolg geführt.

Ärztezentrum statt Disco

Stubenvoll ist in Mistelbach aufgewachsen und seit 2020 Ortschef. Dort, wo er als junger Mann gerne in die Disco ging, befindet sich eine Gstätten, die einer der möglichen künftigen Standorte für ein PVZ wäre.

Einige Mistelbacherinnen und Mistelbacher stimmt die Aussicht auf ein Primärversorgungszentrum vorsichtig optimistisch. Die Mutter eines Burschen, der Ergo- und Logotherapie braucht, hofft, dass dann ihre Gesundheitsausgaben sinken. Andere Mistelbacher sind skeptisch. "Woher soll das Personal dafür kommen?", fragen manche.

Christa Grimus – weiße Kurzhaarfrisur, ärmelloses rotes Top – gibt sich abwartend bis skeptisch. Die 78-Jährige sperrt gerade die Tür eines eingeschoßigen Häuses auf, wie sie hier die Straßen säumen. Grimus pflegte beruflich 36 Jahre lang Menschen im Spital, dann im Heim, dann Angehörige zu Hause.

Als sie ihre Schwester vergangenen Winter aus Wien zur Pflege nach Mistelbach holte, bat sie ihren Hausarzt gegenüber, ausnahmsweise einen Hausbesuch zu machen und über die Straße zu gehen, erzählt Grimus. Doch dieser lehnte ab. Also suchte Grimus einen anderen Allgemeinmediziner, der noch Hausbesuche macht, und wurde in Ladendorf fündig. Sie wechselte selbst als Patientin zu ihm. Ladendorf liegt acht Kilometer von Mistelbach entfernt, also steigt Frau Grimus nun für Arztbesuche ins Auto.

Zuckerlgeschäft und Konditorei

Das Auto brauche man ja ohnehin zum Einkaufen, sagt die Mistelbacherin. Sie erzählt von damals, als es noch einen Meinl am Hauptplatz, ein Zuckerlgeschäft und eine gute Konditorei gegeben habe. Einige Lokalflächen im Zentrum stehen leer. "Dabei wohnen gerade dort viele ältere Menschen, die oft nicht mehr so mobil sind", sagt Grimus.

Ein künftiges Primärversorgungszentrum könnte im Ortskern seine Adresse haben, aber das wird sich erst entscheiden. Wenn Zentren zunehmend die Einzelordinationen ablösen, werden längere Anfahrtswege zum Arzt für viele Menschen dazugehören. Ob die Leute diese Veränderungen wollen oder nicht. Dass die ärztliche Versorgung in Mistelbach so bleibt, wie sie ist, will aber ohnehin niemand. (Gudrun Springer, 24.9.2023)