Remco Evenepoel und Jonas Vingegaard
Fahren Tour-de-France-Sieger Jonas Vinngegaard (re.) und der "neue Eddy Merckx" Remco Evenepoel bald in einem Team?
EPA/Manuel Bruque

Die Rennradsaison neigt sich dem Ende zu: Die großen Rundfahrten sind geschlagen, die Weltmeisterschaft, die meisten Klassiker ebenso. Die Radsportwelt liegt im Schwitzkasten der Dominanz von Jumbo-Visma, das mit Jonas Vingegaard, Primoz Roglic und Sepp Kuss zuletzt alle drei Grand Tours abräumte. Doch dann musste das Peloton am Sonntag doch noch einmal ganz tief Luft holen. Denn wie das notorisch gut informierte niederländische Magazin "Wielerflits" am Sonntagabend berichtete, soll es Jumbo-Visma ab 2024 nicht mehr geben. Kolportiert wurde sehr detailliert eine Fusion der Niederländer mit dem belgischen Rennstall Soudal Quick-Step, Heimat von keinem Geringeren als Remco Evenepoel, den man nicht ohne Grund den neuen Eddy Merckx nennt. Zur Einordnung: Eine Zusammenlegung der beiden Mannschaften käme im Fußball einer Verschmelzung von Real Madrid und Manchester City gleich.

Die Reaktionen in der Szene reichen von Ungläubigkeit über Ratlosigkeit bis hin zu Entsetzen. Denn das neue Team unter dem Namen Soudal-Visma oder Visma-Soudal soll schon ab 2024 in Aktion treten. Stimmen die Informationen, blieben noch drei Monate, um den Deal ins Reine zu bringen und alle damit verbundenen Fragen zu klären. Und derer gibt es viele. Ihre Lösung könnte denn Rennradzirkus – gelinde gesagt – auf den Kopf stellen.

Jumbo-Visma bei der Vuelta a Espana
Bei der Vuelta a Espana düpierte Jumbo-Visma die Konkurrenz förmlich.
AFP/OSCAR DEL POZO

Zu viele Häuptlinge

Zuvörderst ist schwer vorstellbar, wie das neuformierte Team mit Vingegaard, Roglic, Evenepoel oder Wout van Aert funktionieren soll, die allesamt Führungsrollen beanspruchen: Zu viele Häuptlinge und zu wenige Indianer können teamintern zu einem Machtkampf führen. Nun gibt es um Evenepoel seit langem Wechselgerüchte. Geht er wirklich – etwa zu Ineos – gibt es ein Problem weniger. Soudal Quick-Step würde sich damit aber ein weiteres gutes Stück von seiner früheren Rolle als eines der stärksten Teams für Eintagesrennen entfernen, als das es von Teameigentümer Patrick Lefevere aufgebaut worden war.

Nicht nur für die Kapitäne könnte die Luft im neuen Superteam eng werden, sondern auch für die zahlreichen erstklassigen Helfer. Im Jumbo-Visma-Kader für 2024 stehen aktuell 27 Fahrer, bei Soudal Quick-Step sind es 23. Laut Reglement des Weltradsportverbandes UCI braucht ein Team auf der World Tour zumindest 27 Fahrer. Die Kadergröße dürfte sich im fusionierten Team bei etwa 30 einpendeln, zumal nur die besten – und teuersten – Athleten werden bleiben können. Was geschieht mit dem Rest? Schnell kursierte die Option eines Zweitligateams, in dem jüngere Fahrer für die World Tour herangezüchtet werden.

Die Frauenteams – und der alte, weiße Mann

Die Frage der Jobs stellt sich neben den Radfahrern auch für die sonstigen Teamangestellten: Sportdirektoren, Mechaniker, medizinisches Personal, Marketingabteilungen und vieles mehr. Allein Jumbo-Visma beschäftigt laut Angaben auf seiner Website mehr als 120 Angestellte. Der Riesenapparat könnte aber gerade ein Argument für die Fusion sein. Budgets unterliegen im Radsport zwar stets der Geheimhaltung, Gerüchten zufolge soll sich der Jahresbedarf bei Jumbo-Visma jedoch auf 25 bis 30 Millionen Euro belaufen. Wenig, im Vergleich zu anderen Sportarten. Viel in einer ökonomisch allgemein angespannten Situation. Längst bekannt, dass sich das niederländische Team für die Zeit nach 2024 nach einem neuen Hauptsponsor umschauen muss. Im Juni war bereits ein saudi-arabischer Investor als Nachfolger für die Supermarktkette Jumbo im Gespräch. Ebenfalls im Juni stoppte der Lieferdienst Gorillas seine Zahlungen, plötzlich fehlten für 2023 und 2024 fünf Millionen Euro in der Kassa.

Der Kopf hinter Soudal Quick-Step: Patrick Lefevere.
Der Kopf hinter Soudal Quick-Step: Patrick Lefevere.
IMAGO/Belga

Was mit den Frauenteams nach einer Fusion der beiden Mannschaften passieren soll, das weiß auch die niederländische Fachpresse nicht zu sagen. Was aus Patrick Lefevere, dem alten, weißen Mann an der Spitze von Soudal Quick-Step werden soll, mutmaßlich schon. Der Machtmensch Lefevere, der mit seinen Ansichten zum Radsport eine eigene Kolumne in der belgischen Zeitung "Het Nieuwsblad" befüllen darf, soll in den Aufsichtsrat des neuen Teamamalgams wechseln. Jumbo-Teamchef Richard Plugge soll auch die Leitung der neuen Équipe übernehmen, der bisherige Jumbo-Sportdirektor Merijn Zeeman für die sportlichen Belange verantwortlich sein.

Konkurrenz belebt den Wettkampf – wenn es sie gibt

Das größte Fragezeichen bleibt aber, was eine Fusion mit dem Radsport im Ganzen anstellen würde. Die Vorherrschaft von Jumbo-Visma war schon heuer erdrückend. Man gewann alle drei großen Rundfahrten, dazu die Dauphiné, Tirreno-Adriatico, die Rundfahrten in Katalonien und im Baskenland, Gent–Wevelgem und vieles mehr. Soudal Quick-Step holte allein mit Evenepoel 14 Siege bei Eintagesrennen, Etappen und kürzeren Rundfahrten. Der zweifache slowenische Tour-de-France-Sieger Tadej Pogacar hält zwar gut dagegen, hat aber gegenüber Jonas Vingegaard bei der diesjährigen Tour de France viel an Glanz verloren. Zudem ist sein Team UAE in der Tiefe nicht so stark besetzt wie Jumbo-Visma. Die einstigen Dominatoren Ineos (vormals Sky) stellten heuer keine große Gefahr dar.

Möglicherweise bald allein im Kampf gegen Visma-Soudal: Tadej Pogacar.
EPA/CHRISTOPHE PETIT TESSON

Für den belgischen Ex-Weltmeister und Klassikersieger Philippe Gilbert, nunmehr TV-Experte für Eurosport, hätte eine Fusion denn auch "katastrophale Konsequenzen" für den Radsport. Die Angst vor einem übermächtigen Gegner ist real und begründet. So konkurrenzlos waren Vingegaard, Roglic und der spätere Sieger Kuss etwa bei der Vuelta a Espana unterwegs, dass ihnen der frühere Teammanager Jerome Pineau unverhohlen Motordoping unterstellte. Ob mit oder ohne Motor: Vereint würde Visma-Soudal wohl noch mehr Stücke vom Kuchen für sich beanspruchen.

Und was sagt man bei den Niederländern zu alledem? Vorerst einmal nichts. Nur hinter vorgehaltener Hand erfuhr das Bikeportal "GCN", dass es derzeit "mehrere Optionen" gebe. Ob die beste für Jumbo-Visma auch die beste für den Radsport sein wird, sei dahingestellt. (Michael Windisch, 25.9.2023)