Bild der Textilfabrik Esteam, die unter anderem Baumwolltaschen für Lidl fertigt.
Plänen der EU zufolge sollen große Unternehmen künftig verstärkt auf die eigenen Lieferketten schauen. Laut einer neuen AK-Studie bringt das Vorteile für Länder des Globalen Südens ebenso wie für europäische Unternehmen. Wirtschaftsvertreter sehen das Vorhaben kritischer.
IMAGO/Joerg Boethling

Der 24. April 2013 ist ein Tag, der traurigen Eingang in die Geschichtsbücher gefunden hat. 1.100 Arbeiterinnen und Arbeiter werden in der Textilfabrik Rana Plaza nordwestlich von Dhaka in Bangladesch unter dem einstürzenden Gebäude für immer begraben, weitere 2.400 verletzt. Es ist eines der größten Industrieunglücke überhaupt – und eines, das hätte verhindert werden können. Der Zutritt zum Gebäude wurde tags zuvor polizeilich untersagt, gearbeitet wurde trotzdem. Zu groß der Druck, billige Kleidungsstücke nach Europa und Nordamerika zu liefern.

Etwas mehr als zehn Jahre später ist die Situation mancherorts zwar besser; einzelne Unternehmen geben dem Druck der Kundschaft nach und produzieren unter faireren Bedingungen. Zudem gibt es vereinzelt Länder, etwa Frankreich und Deutschland, die Sorgfaltspflichten für große Unternehmen eingeführt haben. Von fairen Verhältnissen zu sprechen wäre aber weit hergeholt angesichts dessen, was in den Wertschöpfungsketten großer Textil- und Bergbaukonzerne weiterhin passiert. Freiwillige Standards funktionieren nicht, das zeigen zahlreiche Studien der vergangenen Jahre.

AK-Studie: Win-win für Globalen Süden und Europa

Als umso wichtiger gilt das EU-Lieferkettengesetz, das von Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen seit langem gefordert wird. Dass die Richtlinie kommt, gilt als beschlossene Sache, haben sich doch alle drei Player der EU-Gesetzgebung dafür ausgesprochen. Weit weniger einheitlich fallen die jeweiligen Entwürfe aus. Die EU-Staaten wollen den Finanzsektor verschonen, das Parlament will besonders strenge Regeln – auch im Hinblick auf Umweltstandards.

Österreichs Position? Unklar. Bei der Abstimmung des EU-Ministerrats im Dezember vergangenen Jahres hat sich Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) enthalten. Und das wohlgemerkt bei dem bereits lascheren Gesetzesentwurf. Auf STANDARD-Anfrage wird dies damit begründet, man habe sich innerhalb der schwarz-grünen Koalition nicht einigen können.

Dabei zeigen zahlreiche Analysen, dass strengere Sorgfaltspflichten durchaus effektiv sind – wenn sie denn streng genug ausgestaltet sind. Zu dem Ergebnis kommt auch eine jüngst veröffentlichte Studie im Auftrag der Arbeiterkammer (AK). Die Studienautoren Johannes Jäger von der FH BFI Wien und Gonzalo Durán der Universidad de Chile haben sich dafür empirische Studien angesehen und analysiert.

Das Ergebnis: Ein "wasserdichtes" EU-Lieferkettengesetz stärkt sowohl Arbeitnehmervertreter im Globalen Süden als auch die Wettbewerbssituation in Europa.

Kaum Auswirkungen auf Preise im Regal erwartet

"Das Lieferkettengesetz hat insgesamt eine wohlfahrtssteigende Wirkung", sagte Studienautor Johannes Jäger bei der Studienpräsentation am Dienstag. Durch striktere EU-Vorgaben könnten Gewerkschaften und damit Arbeitsrechte im Globalen Süden gestärkt werden, europäische Unternehmen würden von wachsenden Märkten, steigenden Investitionen und höherer Produktivität profitieren.

Die Kritik einer Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen kann Jäger nicht nachvollziehen, ebenso wenig wie zu hohe Administrationskosten für betroffene Unternehmen. Denn: Die Richtlinie umfasst nicht nur europäische Unternehmen, sondern auch entsprechend große Konzerne aus Drittstaaten. "Damit wird der bisher verzerrte Wettbewerb bereinigt." Zudem seien die Kosten für die Unternehmen überschaubar. Die EU-Kommission beziffert sie auf nur 0,009 Prozent des Jahresumsatzes großer Unternehmen.

Auch steigende Preise durch höhere Löhne in den Produktionsländern dürften den Studienautoren nach keine signifikanten Auswirkungen haben. Untersuchte Erhebungen würden zeigen, dass die Löhne nur etwa 0,6 Prozent des Endpreises für T-Shirts ausmachen.

Ein weit weniger positives Bild zeichnen Wirtschafts- und Arbeitgebervertreter. So äußerte etwa die Deutsche Industrie- und Handelskammer Bedenken, die Überprüfung der Wertschöpfungsketten könnte Unternehmen belasten und dazu veranlassen, sich aus Risikoländern zurückzuziehen. Angesichts der angestrebten Diversifizierung der Lieferketten, insbesondere im Rohstoffsektor, sei das ein "schlechtes Signal".

Richtlinie verliert auf der Zielgeraden an Tempo

Daraus ergibt sich gewissermaßen eine Pattstellung. Die von der AK berichteten Vorteile gibt es nur zum Preis eines strikten Regelwerks – das wiederum den Wirtschaftsvertretern sauer aufstößt. Je höher die Strafzahlungen und je engmaschiger der Rechtsrahmen, desto wirksamer das Gesetz, so die Schlussfolgerung der AK-Studie. Am effektivsten seien die Vorschläge des EU-Parlaments, jene der EU-Staaten und der Kommission seien durch Schlupflöcher aufgeweicht. Dies betreffe etwa die Ausnahme für den Finanzsektor oder auch die Aussparung der Klimaschutz-Sorgfaltspflichten.

Ein Aufforderung gibt es auch in Richtung Regierung: Wirtschaftsminister Martin Kocher müsse sich auf EU-Ebene endlich konstruktiv einbringen. Ebendort finden derzeit die entscheidenden Trilogverhandlungen statt, laut Plan will man sich bis Ende des Jahres einigen, um die Richtlinie noch in den Plenarsitzungen vor der Europawahl im Juni 2024 beschließen zu können, wie der STANDARD aus informierten Kreisen erfuhr. Die Richtlinie befinde sich zwar auf der Zielgeraden, aufgehalten werde sie nicht mehr – an Geschwindigkeit büßt sie auf den letzten Metern aber ein. (Nicolas Dworak, 26.9.2023)