Frühromantik Schauerliteratur Tieck
Ludwig Tieck, ein manierlicher Magier und Erfolgsautor: der romantische Dichter auf einem Gemälde Carl Christian Vogel von Vogelsteins (1835).
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Gute Bekannte pflegte der junge Ludwig Tieck (1773–1853) mit Vorlesungen aus ziegeldicken Schauerromanen zu martern, eigenen, aber auch Erzeugnissen der Schundliteratur. Waren die Zuhörer vor Erschöpfung eingeschlafen, steigerte das den Ehrgeiz des Vortragenden eher noch. Prompt las er "mit eben dem Enthusiasmus, mit eben dem ununterbrochenen Eifer". Tiecks Einbildungskraft wurde durch den Umgang mit Literatur ins Kolossale gesteigert. War der Jüngling mit Druckerschwärze in Berührung gekommen, umgaukelten ihn allerlei Fantasiegestalten.

Sah Tieck anfangs "blumenvolle Täler", so konnte sich in seinem Kopf ein Sturm erheben. Im Nu stiegen schroffe Felsen empor, "Schauder die grässlichsten (sic!) bliesen mich an". Mit einem Wort: "Ich war auf einige Sekunden wirklich wahnsinnig." Fortan pflegte der Frühromantiker Tieck den Umgang mit Dichtkunst, als wäre sie ein handelsübliches Suchtmittel. Er stellte dergleichen Nervengift selbst her: bahnbrechende Erzählungen, die noch vor Anbruch des 19. Jahrhunderts in aufgeklärten Almanachen oder Erzählsammlungen veröffentlicht wurden.

Etwas von der ungebärdigen Wildheit des Erzählgenies Tieck findet sich jetzt in einer denkwürdigen Kompilation des Galiani-Verlags. Sparsam eingebettet in ein Beet von Anmerkungen, kann man Proben der Erzählmanufaktur Tiecks neu erwerben. Der Band Wilde Geschichten enthält köstliche Elixiere eines wahrhaften Erzählteufels.

Ist es noch Scherz oder schon Satire oder Ironie, wenn der Autor seine Figuren über Stock und Stein hetzt? Wenn er sie in Gebirgsschluchten stürzt oder in schicksalhafte Begegnungen mit Hexen, Mördern und Hündchen verwickelt? Mit einem Bein steckt Tieck noch tief in der Tradition der Treuherzigkeit. Es ist die brüchige Welt der Spätaufklärung, die noch aus den schauerlichsten Begebenheiten Mittelchen gewinnt, um der Schlechtigkeit der Welt abzuhelfen.

Wirkungsästhet

Doch bereits mit Tiecks Erzählungen aus den Straußfedern (1796) lässt sich kein moralisches Süppchen mehr kochen. Der Autor ist Wirkungsästhet. Planmäßig versucht er, bei den Leserinnen – Lektüre ist überwiegend Frauensache – "Schwindel" zu provozieren. Tieck dreht so lange an den Erzählschrauben, bis alle Gewinde zerstört sind. Auf grelle Schocks folgen Momente großer Heiterkeit. Prompt kehren Verstorbene vom Kirchhof wieder. Krummgebückte Hexen entpuppen sich als vormalige Freunde, die herzallerliebste Gemahlin soll die eigene Schwester gewesen sein (des titelgebenden Blonden Eckbert).

Mit der planmäßigen Zerrüttung der gewöhnlichen Anschauungsformen kehrt sich Tieck gegen die Satzungen der Rationalität, wie sie noch der Philosoph Immanuel Kant vertreten hatte. Zugleich enthüllt er "die unsichtbaren, verborgenen Springfedern", die die Antriebe der Seele bilden. Es führt ein gewundener Weg von der Schauerromantik Tiecks hinauf bis zu den Preziosen Hugo von Hofmannsthals (Das Märchen der 672. Nacht).

Die menschliche Erzählfabrik mit Namen Tieck muss man sich als gigantische Stoffwechselmaschine vorstellen. Er besaß eine Bibliothek, die zum Zeitpunkt seines Todes 16.000 Bände zählte. In wunderlichen Werken wie der Erzählung Die Elfen (1811) wird sogar ein ökologisches Fühlen und Wähnen erahnbar. Menschliche Hybris hilft mit beim Auszug der Elfen aus dem Blumenhain. Zurück bleibt dystopisches Chaos, eine Art unbewohnbares "waste land".

Netflix-Ahnherr

Ob man Tieck, den famosen Shakespeare-Übersetzer, heute tatsächlich als Ahnherren von Kino und Netflix betrachten soll, wie der Verlag es ein wenig populistisch empfiehlt, sei dahingestellt. Tieck-Lektüre kann jedenfalls wohligen Schwindel erregen. Die erste Werkausgabe zur vorletzten Jahrhundertmitte umfasste etwa 30 Bände. Am Schluss – der Greis war beim Lesepublikum schon ein bisschen in Vergessenheit geraten – gab ihm Preußens König Friedrich Wilhelm IV. das Geleit zum Berliner Dreifaltigkeitsfriedhof. Die Schauer waren verebbt. Von nun an gaben Rationalisten den Ton an. (Ronald Pohl, 28.9.2023)