Vor einem Jahr ging die Angst um in Österreich. Was, wenn die Russen das Gas abdrehen? Werden die Menschen in kalten Wohnungen sitzen, die Betriebe ihre Produktion einstellen? Wird eine tiefe Krise kommen? Nur los von Russland, lautete angesichts dessen das Credo. Der Staat, der seinen Nachbarn Ukraine mit Krieg überzieht und Europa mit dem Abdrehen von Gaslieferungen erpresst, soll keinesfalls weiterhin Macht über unsere Energieversorgung haben.

Gasförderung im Hohen Norden Russlands: Immer noch stammen zwei Drittel der österreichischen Gasversorgung aus Russland.
Gasförderung im hohen Norden Russlands: Immer noch stammen zwei Drittel der österreichischen Gasversorgung aus Russland.
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Was ist seither geschehen? Ein Jahr später, zu Beginn der Heizsaison mit 1. Oktober 2023, zeigt sich: Zur schlimmen Krise ist es nicht gekommen – auch dank forcierter Bemühungen der Regierung, die etwa staatlicherseits um viel Geld Gas einspeichern ließ. Doch darüber hinaus sieht die Bilanz trist aus. Österreich ist heute noch immer in hohem Maß von russischem Gas abhängig – mehr als die meisten anderen EU-Länder, zumindest in Westeuropa. Und nicht nur das – auch ist das russische Gas, dessen Einnahmen Putins Kriegskassa füllen, äußerst teuer. In kaum einem Land müssen die Menschen derart für den Rohstoff bezahlen wie in Österreich. Warum? Was läuft schief in Österreichs Energiepolitik?

Anhaltende Abhängigkeit

Die Gründe für die anhaltend hohe Abhängigkeit hängen eher mit Dingen zusammen, die nicht geschehen sind, als mit solchen, die geschehen sind. Konkret: Im Fall Österreichs flog keine Pipeline mit russischem Gas in die Luft, die für die Versorgung des Landes zentral ist – so geschehen bei der North-Stream-1-Pipeline, die nach Deutschland führte und im September 2022 von unbekannten Tätern gesprengt wurde. Die Rohre in Richtung Österreich hingegen, die durch die Ukraine und die Slowakei verlaufen, bleiben funktionstüchtig, ungeachtet des Kriegs in der Ukraine.

Weiters hat Österreich bedeutsame Gaslieferverträge mit Russland weder aufgekündigt noch gerichtlich angefochten – dies ebenfalls im Gegensatz zu vielen anderen Ländern. Laut einer Erhebung des britischen Oxford Institute for Energy Studies haben (fast) alle Energiekonzerne westeuropäischer und viele osteuropäischer Staaten ihre Verträge mit russischen Gazprom aufgelöst oder man befinde sich in einem Rechtsstreit über deren Auflösung. Nur an wenigen Orten laufen sie weiter; da wären etwa die Slowakei, Serbien, Ungarn, Griechenland – und eben Österreich.

Rätselhafte Geheimverträge

Wie es zu dem Sonderweg kam, wird der Öffentlichkeit nicht verraten. Es handelt sich um die mittlerweile berüchtigten Take-or-Pay-Verträge, die die teilstaatliche OMV im Jahr 2018 mit der Gazprom schloss. Sie laufen bis zum fernen Jahr 2040 – wobei sich die OMV verpflichtet, Liefermengen abzunehmen. Die Bedingungen, unter denen ein Ausstieg möglich wäre; die Haftungsregeln, falls Vertragspartner Zusagen brechen; die zuständige Gerichtsbarkeit – all das kennt man nicht, weil es die OMV geheim hält. Nicht einmal Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) hat die Verträge gesehen, wie er im Februar behauptete.

Die Gasversorgung aus Russland für Österreich ist also aufrecht, vertraglich wie in Sachen physische Infrastruktur. Das hat weitreichende Konsequenzen. Noch immer stammen laut Klimaschutzministerium 66 Prozent der österreichischen Gasimporte aus Russland – EU-weit hingegen ist der Anteil auf unter zehn Prozent gesunken. Zwar sattelt Österreich allmählich auf Gas etwa aus Norwegen um, doch dies läuft schleppend. Daraus ergibt sich nicht nur das Problem, dass Russland weiterhin Österreich erpressen kann – die Abhängigkeit ist geringer, aber keineswegs verschwunden. Es besteht auch die Gefahr, dass die Ukraine den Gashahn zudreht: Das Land ist nicht glücklich damit, dass Gas aus dem Aggressor-Staat weiterhin durchs eigene Territorium in den Westen fließt. Ukrainische Politiker lassen gern durchklingen, dass mit der Durchleitung im Jahr 2024 Schluss sein würde – womit Österreichs Gasversorgung zu zwei Dritteln gekappt wäre.

400 Millionen für russisches Gas

Eine weitere wichtige Frage ist die nach dem Preis des russischen Gases für Österreich. Es sollte billig sein, möchte man meinen. Immerhin hat das Putin-Regime viele internationale Kunden verloren; immerhin versorgt Russland seine verbliebenen Handelspartner, etwa China, mit reichlich billiger Energie. Steht Österreich also, wenn schon nicht moralisch, so doch wirtschaftlich auf der Siegerseite?

Interessanterweise gar nicht. Wie die Neos auf Basis der Außenhandelsstatistik ausgerechnet haben, flossen heuer pro Monat im Jahresdurchschnitt knapp 400 Millionen Euro für Gaskäufe an Russland. Umgelegt auf die Megawattstunde (MWh) bedeutet dies, dass Österreich rund 48 Euro pro MWh bezahlt. Dieser Preis liegt nur geringfügig über jenem, zu dem nichtrussisches Gas an den Börsen gehandelt wird. Die Differenz beträgt wenige Prozentpunkte – keine Spur von billigem russischen Gas.

Nirgends zahlen Energiekunden mehr

Die hohen Preise kommen voll bei den Konsumentinnen und Konsumenten an, rechnen die Neos weiter vor – mehr als in jedem anderen Staat Europas. Seit Jänner 2021 haben sich die Gaspreise für Endverbraucher laut Verbraucherpreisindex in Österreich um ganze 217 Prozent erhöht. Zwar wurde Gas überall beträchtlich teurer, aber nirgends auch nur annähernd wie in Österreich. Zum Vergleich: Im Schnitt der EU-27 beträgt die Preissteigerung bei Gas seit Anfang 2021 60 Prozent, in Deutschland sind es 91 Prozent – Bruchteile von den Werten in Österreich.

Woher rühren die extremen Preise? An der russischen Herkunft des Rohstoffs kann es nicht liegen, da sich die Preise international kaum unterscheiden. Hier kommen anderen Faktoren ins Spiel: Da wäre etwa die Rolle der Landesenergieversorger, die stark untereinander vernetzt sind; deren häufig intransparente Preisgestaltung; und auch die mangelnde Bereitschaft vieler Konsumentinnen und Konsumenten, den Anbieter zu wechseln – falls sie überhaupt brauchbare Angebote vorfinden.

Ein Jahr nach der tiefen Energiekrise und der Angst vor dem dem totalen Stillstand lässt sich also kein positives Fazit ziehen. Zwar konnte 2022 das Schlimmste abgewendet werden. Doch viel ist seither nicht geschehen. Der Großteil des Gases kommt weiterhin aus Russland; Österreich bleibt abhängig. Und zu alledem zahlen die Menschen im Land mehr als überall sonst. (Joseph Gepp, 1.10.2023)