Muss der Einkaufskorb leer bleiben? Im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2019 geht es den Menschen trotz Corona und Inflation finanziell grosso modo nicht schlechter, zeigt eine Studie – mit Ausnahme des laufenden Jahres.
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Es ist, als gäbe es zwei Welten. In der einen dürfen sich die Bürgerinnen und Bürger, wie Regierungsvertreter verkünden, trotz multipler Krisen über ein Kaufkraftplus freuen. In der anderen, so erzählt die Opposition, werden die Menschen mit ihren unbezahlbaren Rechnungen alleingelassen.

Der Streit tobt nicht nur auf politischen Bühnen. Auch in diversen Diskussionsforen, nicht zuletzt jenen des STANDARD, polarisiert die Frage nach den sozialen Folgen der Preislawine wie kaum eine andere. Paradies oder Inferno – welches Bild ist näher an der Realität?

Wer Antworten sucht, kommt an den Analysen des parlamentarischen Budgetdienstes, einer regierungsunabhängigen Serviceeinrichtung für die Abgeordneten, nicht vorbei. Die jüngste erfolgte auf Anfrage von ÖVP-Mandatar Andreas Hanger, der in anderen Debatten nicht immer mit konstruktiven Beiträgen aufgefallen ist. Doch Verschwörungstheorien sind unangebracht: Der Einfluss der Parteien beschränkt sich auf die formulierte Fragestellung, wohlwollende Ergebnisse kann beim Budgetdienst niemand bestellen.

Die Experten im Hohen Haus fokussierten auf Geheiß Hangers nicht nur auf die Inflationswelle, sondern nahmen auch die Corona-Zeit mit – und gelangten zu positiveren Schlüssen, als landläufig oft gezogen werden. Laut der auf Statistik und Prognosen basierenden Untersuchung liegen die realen verfügbaren Haushaltseinkommen (Definition siehe Infokasten unten) in den Jahren von 2020 bis 2024 im Schnitt stets höher als im Vorkrisenjahr 2019, einzige Ausnahme ist 2023. Mit im Schnitt 5,9 Prozent ist der Überhang für das Zehntel mit den niedrigsten Einkommen besonders groß (siehe Grafik).

Der Standard Grafik

Abgesehen von den jährlichen per Kollektivverträgen ausgehandelten Lohnsteigerungen und den staatlich gewährten Pensionserhöhungen sei dies mit den von der Regierung beschlossenen "einkommensstärkenden Entlastungsmaßnahmen" zu erklären, schreibt der Budgetdienst. Inklusive der Abschaffung der kalten Progression, die de facto der Verzicht auf eine automatische Steuererhöhung ist, summierten sich die Hilfspakete auf 45,7 Milliarden Euro – eine willkommene Argumentationsstütze für die türkis-grüne Koalition.

Einbruch zwischen guten Jahren

Auch Georg Feigl bewertet die Berechnungen des Budgetdienstes als seriös. Dennoch hält der Arbeiterkammer-Ökonom die Darstellung für irreführend, zumal sie von den Folgen der Teuerungskrise ablenke. Denn neben der Pandemiezeit, als staatliche Goodies die Einkommen besonders stark stützten, ist in Prognoseform auch das kommende Jahr inkludiert. Da zeichnet sich Erfreuliches ab: Weil sich die Lohnsteigerungen an der in dem Fall von der Preisexplosion geprägten Vergangenheit orientieren, dürfte das Plus üppig ausfallen. Bei nun gesunkener Inflation winkt ein satter realer Einkommenszuwachs.

Doch dazwischen, sagt Feigl, sei die Kaufkraft in beispielloser Weise eingebrochen. Auch dafür bietet der Budgetdienst Belege: Bemisst man die Einkommensentwicklung am jeweiligen Vorjahr, dann setzte es von 2021 bis 2023 dreimal hintereinander ein Minus. Am größten ist die Misere demnach heuer, gerade für die Ärmeren: Dem untersten Zehntel der Haushalte droht ein realer Verlust von 4,6 Prozent.

Die Bewertung hängt also stark von der Perspektive ab. Es stimmt, dass die Menschen hierzulande mit Ausnahme von 2023 im Schnitt nicht schlechter, sondern sogar etwas besser dastehen als im letzten Vorkrisenjahr. Doch ebenso richtig ist, dass es seit dem anno 2021 eingesetzten Preisauftrieb bis dato merklich bergab ging.

Unterschätztes Problem?

Die Auswirkungen auf Bezieher kleiner Einkommen seien tatsächlich noch schlimmer als ausgewiesen, merkt Feigl an und verweist auf eine weitere Budgetdienst-Berechnung. Diese trägt der besonderen Situation schlecht situierter Haushalte stärker Rechnung. So ist eingepreist, dass diese Gruppe einen höheren Anteil des Einkommens für Konsum benötigt und zumindest heuer wegen einer anderen Zusammensetzung der Ausgaben unter einer noch höheren Inflation leidet, als das im Durchschnitt der Fall ist.

Ergebnis: Während die teuerungsbedingten Mehrausgaben von 2021 bis heuer für Haushalte mit mittlerem Einkommen im Schnitt ausgeglichen wurden, ergab sich für das unterste Zehntel eine Lücke von fünf Prozent. Die Regierung habe zwar einiges kompensiert, dabei aber die sozial schlechtergestellten Menschen vernachlässigt, schließt der Kritiker aus der Arbeiterkammer daraus: "Da gehört noch etwas gemacht." Dass es 2024 wieder deutlich aufwärtsgehen dürfte, sei mehr als nur ein schwacher Trost, "hilft den Betroffenen kurzfristig aber gar nicht".

Keine Reserven vorhanden

Doch können nicht auch Ärmere eine Durststrecke verkraften, ließe sich kaltschnäuzig einwenden, wenn es davor und danach starke Einkommenszuwächse gibt? Wer so argumentiere, habe noch nie Geldsorgen gehabt, erwidert Markus Koza. Auch in besseren Jahren warteten genug aufgeschobene Ausgaben, die Sparen unrealistisch machten – und sei es das verständliche Bedürfnis, dem eigenen Kind einmal etwas zu schenken.

Als grüner Sozialsprecher Teil der Koalition, beginnt Koza seine Bilanz naturgemäß bei den positiven Seiten. "Der Totalabsturz ist verhindert worden", sagt er, räumt aber auch ein: "2022 haben wir die Verluste zum Teil überkompensiert, doch 2023 hat es uns stark erwischt. Da drohen Einkommensverluste, das ist so." Die Inflation habe sich als hartnäckiger entpuppt als erhofft, erläutert Koza. Und wäre es stärker nach den Grünen gegangen als nach der ÖVP, dann hätte die Regierung die Mietpreisbremse viel früher gezogen.

Trügerischer Durchschnitt

Was bei allen Analysen nicht vergessen werden darf: Stets handelt es sich um Durchschnittswerte für bestimmte Gruppen. Wie stark die Inflationskrise jemanden trifft, variiert aber je nach Lebenslage. Einen Mieter etwa erwischte der Preisschock massiver als den Besitzer einer Eigentumswohnung. Wer wenig Geld, aber Kinder hat, profitiert vom heurigen Antiarmutspaket; ein alleinstehender Arbeitsloser hingegen steigt mangels Inflationsabgeltung viel schlechter aus. Folglich gibt es Menschen, deren Einkommen sich noch deutlich ungünstiger entwickelt haben als in der Allgemeinbetrachtung abgebildet.

Wenn die Einkommen heuer sinken – wie sollen die sozial Schwachen im Land dann über die Runden kommen? Koza verweist auf Notprogramme wie den im Vorjahr aufgespannten "Wohnschirm", der Hilfe für Menschen umfasst, die sich ihre Unterkunft nicht mehr leisten können. Aber einer Sache müsse man sich klar sein, fügt der Abgeordnete an: "Zu glauben, dass eine Krise wie diese keine Spuren in der Gesellschaft hinterlässt, ist eine Illusion." (Gerald John, 28.9.2023)