Im Marktforschungsinstitut Sora ist man um Schadensbegrenzung bemüht. Nachdem publik geworden war, dass dessen Chef Günther Ogris der SPÖ eine äußerst enge Kooperation angeboten hat, verlor es den ORF als Großkunden: Dort war Sora einer breiten Öffentlichkeit mit seinen Wahltagshochrechnungen und den Wählerstromanalysen bekannt geworden. Ogris hat, um Schaden vom Institut abzuwenden, die Geschäftsführung an Christoph Hofinger, einen erfahrenen Wahlforscher, abgegeben. Hofinger will sich nun darum bemühen, die "Kernkompetenz wissenschaftlicher Sozialforschung" von anderen Aktivitäten des Instituts zu trennen.

Hochrechner Christoph Hofinger (im Vordergrund) und Günther Ogris im ORF-Wahlstudio.
Jacqueline Godany

Zu dieser Kernkompetenz gehört die Hochrechnung von Teilergebnissen einer Wahl aufgrund zugrunde gelegter Wählerstromanalysen, damit an einem Wahlabend noch vor dem Vorliegen des Gesamtergebnisses der Ausgang abgeschätzt werden kann. Nachdem dieses System Ende der 1960er-Jahre vom Wiener Statistikprofessor Gerhard Bruckmann für den ORF aufgebaut worden war, hatte zuletzt Sora diesen Auftrag vom ORF gehabt, während ATV sich an Wahlabenden auf die Berechnungen der Arge Wahlen unter Franz Sommer und Umfragen des Demoskopen Peter Hajek zu den Wahlmotiven gestützt hat. Alle Genannten sind keine politisch unbeschriebenen Blätter – Bruckmann, der "Hochrechner der Nation", war später sogar Abgeordneter der ÖVP. An seiner wissenschaftlichen Arbeitsweise gab es dennoch nie Zweifel.

Objektivität trotz Parteinähe

Wer die Szene der Markt- und Meinungsforschung kennt, wird auch kaum überrascht sein, dass ein Meinungsforschungsinstitut wie Sora auch für politische Parteien tätig ist. "Wer wenige Aufträge von Unternehmen hat, ist umso mehr davon abhängig, für öffentliche Institutionen, für Medien und für Parteien zu forschen – das ist marktüblich und auch nicht verwerflich", sagt David Pfarrhofer vom Linzer Market-Institut, das unter anderem für den STANDARD regelmäßig politische Meinungsforschung betreibt. In den 33 Jahren seines Bestehens hat Market Forschungsaufträge beinahe aller Parteien – "von der Gemeindeebene bis zur Bundesebene" – angenommen und abgearbeitet, mehr als drei Viertel der Aufträge an Market kämen allerdings aus unpolitischen Bereichen.

Wobei die Prinzipien der politischen Sozialforschung kaum anders sind als jene, die für kommerzielle Kunden gelten. Diese kaufen sich die Expertise der Marktforscher im jeweils untersuchten Themenfeld ein, nicht aber die für andere Kunden erhobenen Ergebnisse: Was für das Handelsunternehmen A erhoben wurde, ist Geschäftsgeheimnis des Unternehmens A; was später für dessen Mitbewerber B erhoben wird, gehört exklusiv dem Kunden B und so weiter. Politische Marktforschung ist aus dieser Sicht nicht viel anders als kommerzielle Marktforschung: Erhoben werden Präferenzen der Konsumenten für gewisse Aussagen, Leistungen und Angebote.

In der Praxis unterstützt das Meinungsforschungsinstitut seine Kunden vor allem bei der Fragebogenerstellung. Da geht es um die für die Befragten verständliche Formulierung der Fragen ebenso wie darum, dass nicht ein wichtiger Aspekt eines Themenkomplexes vergessen wird. Seriöse politische Meinungsforschung zielt ja nicht darauf ab, dass für den Auftraggeber "günstige" Daten erhoben werden – was innerhalb der Parteiapparate für Kopfschütteln sorgen kann, wie ein ehemaliger ÖVP-Politiker, der nicht namentlich zitiert werden will, erzählt: "Wir müssen ja wissen, was wir in den Augen der Wahlberechtigten vielleicht falsch gemacht haben, aber das will in der Partei nicht jeder hören." Pfarrhofers Haltung dazu ist spiegelbildlich: "Die Aufgabe des Marktforschers ist nicht, irgendetwas schönzufärben."

Wolfgang Bachmayer, der mit seinem OGM-Institut stets ein Vorreiter für neue Methoden der Meinungsforschung war, plaudert aus dem Nähkästchen: "Fragebogenvorschläge von Kunden sind oft nicht sehr professionell, da muss man als Demoskop dafür sorgen, dass die Fragen neutral formuliert sind und dass aus der Abfolge der Fragen kein Bias, also keine Antwortneigung hin zum vermeintlich Erwünschten, entsteht." Das sei für manche Kunden enttäuschend, den einen oder anderen Auftrag habe er dann auch sein lassen, wenn der Auftraggeber vor allem seine Position durch die Umfrage eines als neutral positionierten Instituts gestärkt sehen wollte. Im professionellen Bereich gehe es nämlich darum, Stärken und Schwächen von Kandidaten oder die Akzeptanz von politischen Programmen und Formulierungen objektiv abzutesten.

Kreisky und Ifes

In Österreich hat dieser Zugang in den späten 1960er-Jahren Bedeutung erlangt, als der spätere SPÖ-Politiker Karl Blecha das Institut für empirische Sozialforschung (Ifes) gegründet hat. Blecha begleitete den Aufstieg von Bruno Kreisky zum SPÖ-Vorsitzenden (1967) und Bundeskanzler. Im Wahlkampf 1970 hatte die ÖVP für ihren damals amtierenden Bundeskanzler mit dem Claim "ein echter Österreicher" geworben. Die SPÖ siegte damit, dem das Wissen von 1.400 Experten und das Angebot, "ein Stück des Weges gemeinsam" zu gehen, entgegenzusetzen. Von Ifes getestet und von der SPÖ professionell umgesetzt. Womit Ifes ziemlich klar "rot" punziert war, was damals allerdings als ebenso selbstverständlich gegolten hat wie die "schwarze" Punzierung des von Rudolf Bretschneider geleiteten Fessel-Instituts. Fessel wurde ab 1972 in die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) integriert, was zusätzliche unpolitische Aufträge aus der Wirtschaft sicherte. Zur gleichen Zeit entstand in Linz das Institut für Markt- Sozialanalysen (Imas), das der dem freiheitlichen Attersee-Kreis zugerechnete Andreas Kirschhofer-Bozenhardt mit dem Hintergrund seiner Erfahrung im deutschen Institut für Demoskopie Allensbach gegründet hat.

Und in Wien hat Fritz Karmasin das Gallup-Institut etabliert, das die Marke des amerikanischen Meinungsforschers George Gallup in Österreich vertritt. Dieser hat für zahlreiche Medien gearbeitet, aber für alle Partnerinstitute festgelegt, dass man zwar für die Regierung und staatsnahe Stellen forschen darf, nicht aber für Parteien oder einzelne Kandidaten. "Bei Gallup ist das eine strikte Regel, die in unseren Statuten steht", versichert dessen heutiger Chef Michael Nitsche dem STANDARD.

Keines dieser Institute kann allein von Aufträgen aus dem politischen Umfeld leben, die Konsumforschung ist wesentlicher Teil der Arbeit und finanziert die oft umfangreichen Teams von Interviewern und Callcenter-Mitarbeitern. Die Regeln des Marktforschungsverbands Esomar sehen vor, dass ein Institut nicht gleichzeitig Meinungsforschung und Vermarktung betreiben darf. "Es ist auch unzulässig, dass man als Meinungsforscher mit einer PR-Agentur verpartnert ist oder als Lobbyist auftritt", sagt OGM-Gründer Bachmayer, der beteuert, dass sein Institut seit dem Skandal um die mutmaßlich im Sinne der Kurz-ÖVP manipulierten Umfrage-Abrechnungen keine bundesweiten Befragungen im Auftrag von Parteien durchgeführt hat. Überhaupt sei es für ihn als Meinungsforscher wichtig, für alle politischen Richtungen offen zu sein und "keinen Stallgeruch anzunehmen".

Stallgeruch

Tatsächlich halten sich Parteien gerne an Institute, die von ehemaligen Mitarbeitern größerer Institute gegründet worden sind. Diese eher kleinen, aber sehr professionell arbeitenden Neugründungen müssen oft einen Teil der Dienstleistungen – vor allem die Feldarbeit, also die eigentlichen Interviews – an andere Institute auslagern. Dafür können sie sich auf die demoskopischen Inhalte konzentrieren und oft auf die politische Ausrichtung ihrer Kundschaft.

Dass etwa das jetzt ins Gerede gekommene Sora-Institut der linken Reichshälfte zuzuordnen ist, muss jedem innenpolitischen Beobachter klar sein – und hat auch zu Kritik der christlichsozialen FCG-Minderheitenfraktion in der Arbeiterkammer (AK) geführt, die die zahlreichen Aufträge der AK an Sora hinterfragt.

Ebenso wenig ein Geheimnis ist die ÖVP-Nähe von Franz Sommer. Dessen M&R-Institut forscht ebenso wie Demox mit einer personellen Kontinuität aus der seinerzeitigen Fessel+GfK-Mannschaft (im Demox-Kuratorium sitzt Rudolf Bretschneider) immer wieder für die Volkspartei. Sommer war stets nah am Ohr von Sebastian Kurz, als dieser Parteichef war. Den Grünen wird eine gewisse Neigung zur Meinungsforschung durch Sora nachgesagt, und die FPÖ geht mit Meinungsforschungsaufträgen überhaupt sehr sparsam um, ihr scheint kein Institut nahezustehen.

Die SPÖ hält sich (ebenso wie viele sozialdemokratisch dominierte Institutionen von AK bis ÖGB) nach wie vor an Ifes, vergibt aber auch an andere Institute Aufträge. Um einen solchen dürfte sich auch der bisherige Sora-Chef Günther Ogris diese Woche beworben haben – wobei die irrtümlich an die Öffentlichkeit geratenen Präsentationsunterlagen nahelegen, dass hier mehr Beratungstätigkeit als Meinungsforschung in Aussicht genommen war. In der Branche wird anerkannt, dass die Grenzen dabei fließend sind, "aber einem Kunden eine Ministerliste vorzuschlagen, das würden wir nie machen", sagt Pfarrhofer. Dass sich der ORF von Sora, das bisher die Hochrechnungen und Wählerstromanalysen an Wahlabenden durchgeführt hat, aufgrund einer ins Auge gefassten Beratungstätigkeit für die SPÖ distanziert hat, erscheint Gallup-Chef Nitsche nachvollziehbar: "Ein Public Broadcaster muss besonders den Eindruck der Parteilichkeit vermeiden."

Knackpunkt Wahltagsbefragungen

Bachmayer ordnet das ein: "Für die Hochrechnungen am Wahlabend ist eine Parteinähe kein Problem, da geht es um das Rechnen mit Echtzeitdaten. Eine parteipolitische Schlagseite kann eher bei den sogenannten Wahltagsbefragungen, die in Wirklichkeit vor der Wahl stattfinden, entstehen. Da kommt es einerseits auf die Formulierungen an, mit denen Wahlmotive erhoben werden, vor allem aber auf die Interpretation in den Medien, wo eine parteiliche Färbung eine vermeintlich objektive Erklärung des Wahlausgangs prägen könnte." Dabei besonders achtzugeben bleibe eine Aufgabe der Medienschaffenden.

Wie es bei Sora unter Hofinger weitergeht, ist offen. Das Institut spricht von "neuer Unternehmensstruktur", denn es hat Erfahrung mit Schwierigkeiten: 2011 war es schon einmal in die Insolvenz geschlittert und konnte mit neuen Aufträgen gerettet werden. In der Branche wird vermutet, dass sich Sora vor der nächsten Wahl in neuer Aufstellung wieder um den ORF-Auftrag bewerben könnte – denn die Auswahl an kompetenten Wahlstatistikern ist klein: Neben der Arge Wahlen, die bisher für ATV gearbeitet hat, wird in Fachkreisen der Statistiker Thomas Ledl als Experte für Wählerströme genannt. (Conrad Seidl, 28.9.2023)