Brüssel – Eine Mehrheit der EU-Innenministerinnen und -Innenminister will nach Angaben aus diplomatischen Kreisen noch an diesem Donnerstag dem umstrittenen Krisenmechanismus zustimmen. Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hat ihre Blockade aufgegeben. Österreich wird sich nach Angaben von Innenminister Gerhard Karner (ÖVP) nach derzeitigem Stand enthalten. Die Verordnung ist Teil der EU-Asylreform.

Allerdings meldete Italien Vorbehalte gegen den Kompromisstext an. Laut Vertretern der EU-Institutionen müssten noch einige "Detailfragen" geklärt werden, bevor eine Einigung in den "kommenden Tagen" zu erwarten sei.

Piantedosi abgereist

Außenminister Antonio Tajani sagte, Innenminister Matteo Piantedosi habe sich "Zeit erbeten, um die Inhalte dieses Vorschlags näher zu prüfen, auch in rechtlicher Hinsicht". Italienischen Medien zufolge verließ Piantedosi das Brüsseler Treffen mit seinen EU-Kollegen vorzeitig und reiste zurück nach Rom. Hintergrund ist offenbar der bereits länger schwelende Streit mit Deutschland über die Finanzierung von privaten Seenotrettungs-Organisationen im Mittelmeer. Tajani warf den Nichtregierungsorganisationen vor, den "Menschenhandel" nach Italien zu fördern.

Nachdem die EU-Staaten es bisher nicht geschafft haben, sich auf eine gemeinsame Position rund um eine Krisenverordnung zu einigen, hatte das EU-Parlament die Verhandlungen zu anderen Teilen des Migrationsdeals vorige Woche auf Eis gelegt. Die Krisenverordnung soll Ausnahmen von den Asylregeln für den Fall festlegen, dass sich ein Mitgliedsstaat einer besonders hohen Zahl von ankommenden Flüchtenden gegenübersieht.

"Obwohl wir noch weiteren Änderungsbedarf hätten, und auch darüber hinaus, werden wir heute unserer Verantwortung gerecht", sagte Faeser laut der Deutschen Presseagentur am Donnerstag. Deswegen werde man dem Kompromiss zustimmen.

Karner zeigt Skepsis bei Krisenverordnung

"Wir müssen hart und intensiv an unserem Migrationspakt arbeiten und ihn mit Leben erfüllen, darum ringen wir heute", sagte Innenminister Karner vor dem Rat. Er sei froh, dass in den letzten Stunden Bewegung in die Sache gekommen sei, sodass "wir einen Schritt weiterkommen". Es gehe um das Gesamtpaket. Bei der Krisenverordnung sei er skeptisch, "weil wir in Teilbereichen sehen, dass es zu noch mehr Anziehung kommen könnte". Österreich würde daher um eine "bessere Lösung ringen": "Wir müssen klare Regelungen haben an den Außengrenzen, damit wir Bilder wie in Lampedusa verhindern."

Nancy Faeser
Deutschlands Innenministerin Nancy Faeser und ihr österreichischer Kollege Gerhard Karner trafen sich am Donnerstag in Brüssel beim EU-Ministertreffen.
EPA/OLIVIER HOSLET

Gesamtpaket vor Europawahl möglich

EU-Innenkommissarin Ylva Johansson äußerte sich am Donnerstag "optimistisch" über eine Zustimmung der Mitgliedsländer. Auch der für Migration zuständige Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas betonte seinen Optimismus. "Wir kommen dem großen Abkommen näher, auf das wir seit Jahren hinarbeiten", so Schinas. Durch die Einigung auf die Krisenverordnung kann das Gesamtpaket noch vor der Europawahl im Juni 2024 fertig beschlossen werden.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte am Mittwoch zu einer zügigen Beilegung des Streits über die Reform des Asylsystems aufgerufen: Dass es eine schelle politische Einigung brauche, zeige auch die fortgesetzte Instrumentalisierung von Migranten durch Länder wie Belarus. Es sei wichtig, gemeinsame Regeln zu haben.

Schutzstatus für Ukrainer verlängert

Die EU-Innenminister hatten im Juni Pläne für eine weitreichende Asylreform beschlossen. Vorgesehen sind zahlreiche Verschärfungen, um illegale Migration zu begrenzen. Menschen aus Ländern, die als relativ sicher gelten, sollen künftig nach einem Grenzübertritt unter haftähnlichen Bedingungen in streng kontrollierte Aufnahmeeinrichtungen kommen. Auch engere Kooperationen mit Drittstaaten sind vorgesehen. Der von der EU-Kommission vorgeschlagene Asyl- und Migrationspakt umfasst insgesamt sieben Verordnungen und zwei Richtlinien.

Zudem haben die EU-Innenministerinnen und -minister am Donnerstag den Vorschlag der Europäischen Kommission, den vom russischen Angriffskrieg aus der Ukraine Vertriebenen länger Schutz in der EU zu gewähren, politisch abgesegnet. Der vorübergehende Schutzstatus wird bis 3. März 2025 verlängert. 4,1 Millionen Menschen haben laut Eurostat mit Stand 31. Juli 2023 Schutz und Unterstützung in der EU gefunden.

Die EU hatte im März 2022, kurz nach Beginn des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine, eine Richtlinie über vorübergehenden Schutz aktiviert. Diesen Notfallmechanismus kann Brüssel bei einem außergewöhnlichen Massenzustrom einsetzen. Vertriebene erhalten so rasch und unbürokratisch den Schutzstatus. Der Mechanismus galt ursprünglich für ein Jahr, wurde aber bereits bis 4. März 2024 verlängert. (APA, red, 28.9.2023)