Morde, Mittelalter, Oxford
Das Leben im Mittelalter war gefährlich, das galt ganz besonders, wenn man ein Student in einer Universitätsstadt wie Oxford war.
Bild: British Library

Die Universität Oxford rund 80 Kilometer nordwestlich der britischen Hauptstadt London gilt als eine der ältesten und geachtetsten Universitäten der Welt. Seit dem 11. Jahrhundert wird an dieser Lehranstalt unterrichtet, sie hat 55 Nobelpreisträger und 30 britische Premierminister hervorgebracht und belegt seit 2017 im Times Higher Education Ranking den ersten Platz. Diesen konnte sie auch heuer wieder verteidigen.

Man sollte annehmen, dass es in dem altehrwürdigen Gemäuer immer schon gesittet und kultiviert zugegangen ist – doch da täuscht man sich. Die Universitätsstadt war im Mittelalter eine regelrechte Mördergrube, und verantwortlich dafür waren die Studenten. Zu diesem Schluss kam eine Expertengruppe der Universität Cambridge, die 700 Jahre alte gerichtsmedizinische Berichte analysiert hatte. Dabei zeigte sich: Die Mordrate in Oxford war gegen Ende des 13. und im 14. Jahrhundert fünfmal höher als im damaligen London.

"Achtloses Urinieren"

Drei Viertel aller Mordopfer und -täter waren in den Dokumenten als "clericus" bezeichnet worden, ein Begriff, mit dem sowohl das Personal als auch die Studenten der fast 200 Jahre zuvor gegründeten Universität gemeint waren. Die jungen Recken trugen oft Schwerter, Dolche oder andere Waffen und neigten zu übermäßigem Alkoholgenuss – eine ungute Kombination, die häufig zu Gewaltausbrüchen mit Todesfolge führte. Die Auslöser waren oft völlig banal, manchmal reichte "achtloses Urinieren" schon aus, dass am Ende jemand in der Gasse verblutete.

"In einer mittelalterlichen Universitätsstadt wie Oxford herrschte eine tödliche Mischung von Bedingungen", erklärte Manuel Eisner, Direktor des Instituts für Kriminologie in Cambridge, der das Projekt "Medieval Murder Maps" ins Leben gerufen hat. "Die Studenten in Oxford waren alle männlich und in der Regel zwischen 14 und 21 Jahre alt, befanden sich also auf dem Höhepunkt der Gewalt- und Risikobereitschaft." Die Jünglinge waren zudem nicht mehr der strengen Kontrolle durch die Familie, die Gemeinde oder die Zunft unterworfen. Vielmehr konnten sie sich in einer Welt voller Waffen und einfachem Zugang zu Bierstuben und Prostituierten frei bewegen.

Morde, Mittelalter, Oxford
Aus der Ferne mag Oxford heute idyllisch wirken. Vor 700 Jahren war man in diesen Straßen jedoch seines Lebens nicht sicher.
Foto: REUTERS/Toby Melville

Wie in Kapstadt oder Kingston

Eine stete Quelle von Konflikten war die Konkurrenz von studentischen Bruderschaften untereinander, denn viele Studierende waren Mitglied von regionalen Verbindungen, die als "Nationen" bezeichnet wurden. Aus den übersetzten und transkribierten Berichten, die ursprünglich in lateinischer Sprache verfasst waren, geht hervor, dass im 14. Jahrhundert rund 7.000 Menschen in Oxford lebten, etwa 1.500 davon waren Studenten.

Diese explosive Mischung führte dazu, dass die Stadt mit einer Mordrate von etwa 75 gewaltsamen Todesfällen pro 100.000 Einwohner zu kämpfen hatte. Das entspricht etwa dem 50-Fachen des britischen Durchschnitts im Jahr 2023. Nur an wenigen Orten liegt die Mordrate in unserer Zeit höher, dazu zählen einige mexikanische Städte wie Tijuana und Celaya. Hier verzeichnet man über 100 Morde pro 100.000 Einwohner, was vor allem der Drogenkriminalität geschuldet ist. Mordmäßig ungefähr in der selben Liga wie das mittelalterliche Oxford spielen heute Städte wie Kapstadt (Südafrika), New Orleans (USA) und Kingston (Jamaika).

Prostituierte als Opfer

Die Historiker von Cambridge legten freilich nicht nur ein Zahlenwerk vor, sie beleuchteten auch einzelne mörderische Ereignisse und ihre Opfer: Bei einem Vorfall im Jahr 1299 war etwa ein ungenannter Student mit einer Prostituierten namens Margery de Hereford eine "Geschäftsbeziehung" eingegangen, die für die Dame tödlich enden sollte. Der Mann wollte für die geleisteten Dienste nicht bezahlen und erstach Margery stattdessen.

Ein anderer Gerichtsakt aus dem Jahr 1298 berichtet vom Studenten David de Trempedhwy, der sich ebenfalls eine Prostituierte in die Unterkunft mitnahm. In diesem Fall war er selbst jedoch das Opfer, denn seine Kommilitonen sahen das gar nicht gern, griffen ihn wegen seiner "Tändelei mit der Hure" an und töteten ihn. Im selben Jahr hinterließ zudem eine Massenschlägerei in einer Taverne zahlreiche Tote. Die Studenten waren dabei auch mit Schwertern und Äxten aufeinander losgegangen.

Morde, Mittelalter, Oxford
Die Karte zeigt Oxford um 1400, die Symbole zeigen an, mit welcher Waffe eine Mordtat ausgeführt wurde.
Grafik: University of Cambridge/Medieval Murder Maps

Der Tote im Gefängnis

Auch hinter Gittern war man in Oxford nicht vor Totschlag sicher, wie der Fall John Burel zeigte. Der Student war nach der Ausgangssperre erwischt worden und landete im Stadtgefängnis. Am nächsten Morgen fand man seinen Leichnam in der Zelle, der Gerichtsmediziner registrierte "eine tödliche Wunde auf dem Scheitel, 15 Zentimeter lang und bis zum Gehirn reichend". Er vermutete, dass eine Streitaxt im Spiel war.

Mitunter wurden die jugendlichen Täter auch ihrer Strafe zugeführt, nicht alle Morde blieben ungesühnt. "Das Leben in den mittelalterlichen Städten konnte rau sein, aber es war keineswegs gesetzlos. Die Gemeinschaft kannte ihre Rechte und nutzte diese, wenn Konflikte auftraten", sagte Eisner. "Jeder Fall gibt einen Einblick in die Dynamik, die vor sieben Jahrhunderten auf einer Straße in England zu einem Ausbruch von Gewalt führte."

York und London

Eisners Kartierung mittelalterlicher Gewalttaten hatte neben Oxford auch York und London im Visier. Das interaktive Tool zeigt nicht nur die Verteilung der Morde, sondern ermöglicht es den Nutzern auch, die Ursachen und Muster der städtischen Gewalt im mittelalterlichen England zu vergleichen. Im Fall von York betrafen viele der dokumentierten Tötungsdelikte Handwerker desselben Berufsstandes; es kam zu Messerstechereien zwischen Gerbereiarbeitern ebenso wie zu tödlicher Gewalt unter Handschuhmachern.

Die Daten für die Karte stammten aus den Listen der Gerichtsmediziner. Diese sind regelrechte Kataloge über plötzliche oder verdächtige Todesfälle, die von einer Jury aus Anwohnern "guten Rufs" untersucht wurden. "Wenn im spätmittelalterlichen England ein mutmaßliches Mordopfer entdeckt wurde, suchte man den Gerichtsmediziner auf, und der örtliche Landvogt berief diese Jury ein, die den Fall beurteilte", sagte Eisner.

Urteile auf Basis von Vermutungen

Ihre Aufgabe bestand darin, den Tathergang zu ermitteln, indem sie Zeugen anhörten, Beweise bewerteten und dann einen Verdächtigen benannten. "Wir haben zwar keine Beweise dafür, dass die Geschworenen vorsätzlich gelogen haben, aber viele Untersuchungsergebnisse waren wohl häufig nur Vermutungen auf der Grundlage der verfügbaren Informationen", wie die Cambridge-Historikerin Stephanie Brown erklärte. Opfer oder Zeugen hatten damals eine "rechtliche Verantwortung", die Gemeinschaft auf Mordtaten aufmerksam zu machen, und "es waren meist Frauen, die Alarm schlugen und Konflikte zwischen Männern meldeten, um den Frieden zu wahren", so Brown. (Thomas Bergmayr, 29.9.2023)