Karl Nehammer
Psychopharmaka, Alkohol und nun der Rat zum Hamburger: Nehammer plaudert gerne launig drauflos. Doch nicht für alle ist das zum Lachen.
APA/ROLAND SCHLAGER

Redet Karl Nehammer vor Gleichgesinnten frisch drauflos, geht das häufig schief. Schon mit seinen verunglückten Parteitagswitzeleien über Psychopharmaka, Alkohol und das Coronavirus, das ihm trotz Pandemie plötzlich egal war, hatte sich der ÖVP-Chef in die Nesseln gesetzt. Doch nichts davon ließ so sehr an seiner Eignung zum Kanzler zweifeln wie die nun publik gewordenen sozialpolitischen Ergüsse. Manche Familien könnten sich für ihre Kinder keine warmen Mahlzeiten leisten? Unsinn, dozierte Nehammer vor Funktionären: Bei McDonald's gebe es den Hamburger für 1,40 Euro.

Dabei ist der Ärger, der den Regierungschef loslegen ließ, durchaus verständlich. Nehammer hat recht mit der Klage, dass die negativen Folgen der Teuerungswelle in der politischen Debatte mitunter maßlos aufgebauscht werden. Dass eine untätige Regierung die Menschen massenhaft in Armut abrutschen lasse, wie das die Opposition suggeriert, entspricht nicht der Realität. Nachweislich haben die staatlichen Hilfspakete viel Leid abgefangen.

Diffuse Vorwürfe

Trotzdem gibt es genug Leute, denen es finanziell schlecht und auch schlechter als früher geht. Gerade dem ärmsten Teil der Haushalte droht heuer ein herber realer Einkommensverlust gegenüber dem Vorjahr, Umfragen der Statistik Austria zeigen ähnlich Beunruhigendes. Man kann darüber streiten, wie sehr subjektive Einschätzungen von der allgemeinen Schwarzmalerei beeinflusst sind. Doch wenn zehn Prozent angeben, sich keine vollwertige Mahlzeit alle zwei Tage leisten zu können, lässt sich das nicht einfach als Hirngespinst abtun.

In den Ohren der Betroffenen müssen Nehammers provokant, launig oder wie auch immer gemeinten Worte wie eine, Pardon, Verarschung klingen. Notleidende sollten vom Frontmann der führenden Partei Seriöseres erwarten können als Werbung für fettes, ungesundes Essen, garniert mit diffusen Vorwürfen. Sicher gibt es Familien, in denen – wie Nehammer bruchstückhaft andeutet – deshalb keine vernünftige Mahlzeit auf den Tisch kommt, weil sich die Eltern um nichts scheren. Doch eine umfassende Erklärung für die existente Kinderarmut ist das nie und nimmer.

Nur ein Körnchen Wahrheit

Ähnlich simpel gestrickt hat der türkise Wortführer seine Ausführungen über Frauen, die trotz fehlender Betreuungspflichten nur Teilzeit arbeiten. Wieder findet sich ein Körnchen Wahrheit. Natürlich gönnen sich manche Menschen mehr Freizeit, weil es sich finanziell bequem ausgeht. Doch abermals ist die Welt viel komplexer, als sie Nehammer darstellt. Die Motive reichen von auslaugenden Arbeitsbedingungen bis zu nicht vorhandenen Jobs: Gerade in manchen Branchen mit bescheidener Bezahlung werden fast keine vollwertigen Stellen angeboten. Die vielen Teilzeitjobs pauschal als Beleg zu interpretieren, dass es keine Geldsorgen gebe, ist ein grobes Missverständnis.

In einem staatstragend inszenierten Video versucht Nehammer nachträglich, die eigenen Aussagen in eine einleuchtende Erzählung zu betten. Doch wie Politiker wirklich ticken, lässt sich in den vermeintlich unbeobachteten Momenten am besten erkennen.

Vor den Funktionären in Hallein hat sich der ÖVP-Chef als Mann präsentiert, der ernsthafte Probleme verblödelt und an der Aufgabe scheitert, schlüssige Argumentationsketten zu bilden. Das Format, das Bundeskanzler auch im vertrauten Rahmen mitbringen sollten, hat Nehammer vermissen lassen. (Gerald John, 29.9.2023)