Literatur Nobelpreisträgerin Annie Ernaux
Eine Ethnologin ihrer selbst: die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux.
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Ich habe falsche Schätze in leeren Schränken aufbewahrt" – diese Gedichtzeilen des tief deprimierten Paul Éluard, den seine Göttin Gala gerade für Max Ernst verlassen hat, den sie dann wieder für Salvador Dalí aufgeben wird, hat Annie Ernaux, die Grande Dame der französischen Gegenwartsliteratur, ihrem Erstlingswerk von 1973 vorangestellt, das der Suhrkamp-Verlag nun neun Monate nach der Verleihung des Nobelpreises in gewohnt schöner Aufmachung und von Sonja Finck zuverlässig hervorragend übersetzt herausbringt.

Annie Ernaux, die Tochter aus ärmlichen Verhältnissen in der nordfranzösischen Provinz, die den sozialen Aufstieg über Schule, Stipendium und Heirat geschafft hat, inzwischen Lehrerin, Ehefrau und Mutter zweier Söhne ist, wenn auch nun in südöstlicher französischer Provinz, in Annècy, blickt mit 33 Jahren zurück im Zorn und rechnet ab, gnadenlos. Schon die Eingangsszene ist verstörend: ein Küchentisch, eine Engelmacherin, eine rotglühende Sonde, das Geschlecht dann mit Watte zugestopft – wird sie je wieder Lust empfinden können? –, das verzweifelte Warten, dass "es", das Unerwünschte, aus ihrem Körper verschwindet. Sie ist 23 Jahre alt, Studentin und allein in ihrer Not. Der kultivierte Jura-Student hat sich als Fehlgriff erwiesen, "une lavette", ein Schlappschwanz.

Ungewollt schwanger

Mit dieser drastischen Schilderung des traumatisierenden Ereignisses hat Annie Ernaux 1973 ihr autofiktionales Schreiben "wie mit dem Messer" begonnen. Im Jahr 2000 hat sie diesem "Ereignis" dann nochmals ein ganzes Buch gewidmet, das bei uns dann mit 21-jähriger Verspätung herauskam und im gleichen Jahr von Audrey Diwan prominent verfilmt wurde. Der Film erhielt in Venedig den Goldenen Löwen und ist überaus erfolgreich, rüttelt doch das Thema Abtreibung immer noch auf.

Die ungewollt schwangere Studentin des Jahres 1963 versucht, sich auf ihr Studium zu konzentrieren, aber sie kann die Studentin nur spielen. Alle Versuche, sich auf einen Autor des Lektürekanons zu konzentrieren, schlagen fehl, sie findet weder bei Victor Hugo noch bei André Gide etwas, das mit ihr zu tun hat, dafür im medizinischen Handbuch der Zimmernachbarin viel Abschreckendes zum Thema Abtreibung.

Ein uneheliches Kind war seit je in allem Geflüster, Gerede, allem Klatsch und Tratsch ihres Herkunftsmilieus das Schreckgespenst, neben dem Alkohol, dem zweiten Verursacher sozialen Elends, so wie man es sah, die Angst vor beidem als ständiger Begleiter. In ihrer unerwünschten Schwangerschaft sieht die Ich-Erzählerin daher nicht nur ein persönliches Unglück, eine Gefährdung ihrer Ausbildung, was ihr ihre Eltern immer prophezeit haben, sondern auch eine Art Strafe für ihren "Klassenverrat".

Ungeschöntes Porträt

So kommt es, dass sie mit ihrem Schreiben nicht nur mit der verlogenen Sexualmoral der Zeit abrechnet, sondern auch ein ungeschöntes Porträt ihrer Eltern und deren kleinbürgerlichen Milieus entwirft, dem sie bis dahin zu entkommen hoffte. Als die Mutter merkt, dass die Tochter sich außer für gute Noten noch für Jungs interessiert, beschimpft sie sie übel und sperrt sie ein, sieht sie doch das Projekt des sozialen Aufstiegs gefährdet, für das die Eltern immer noch alle Opfer bringen.

Doch die Ich-Erzählerin, die hier noch Denise Lesur, genannt Ninise, heißt, beschreibt ihre Kindheit auch immer wieder als glücklich, da die Eltern liebevoll bis aufopfernd waren und das Gemischtwaren-Kneipengetümmel für das Kind eine bunte Welt und jede Menge Spielanregungen bot, trotz des Plumpsklos im Hof und des samstäglichen Seifenbads für alle nacheinander im Waschzuber. Mit dem "guten Wasser" wurden montags dann die Böden geschrubbt.

Meisterin des Minimalismus

Annie Ernaux, die erst in ihrem vierten Buch Der Platz zu ihrer "écriture plate", ihrer schnörkellos-nüchternen Sprache finden und erst mit ihren letzten Werken zur Meisterin des Minimalismus werden wird, beschreibt in ihrem Debütroman zum Teil drastisch den Geschmack der Armut, wie wir das dann von ihrem literarischen Ziehsohn Édouard Louis kennen werden, der fast 60 Jahre später sein Herkunftsmilieu in Das Ende von Eddy ähnlich drastisch und voller Hass beschreiben wird. Interessant ist, wie sie die Sprachcodes ihrer Eltern und der Menschen aus der Welt des Kramladens mit angeschlossener Kneipe wiedergibt, das ist ausgesprochen farbig, voller Patois und Argot.

Diese Eltern, die so stolz darauf sind, Patron und Patronne zu sein, anstatt in der Fabrik zu arbeiten, erfüllen in diesem Vorort von Yvetot eine wichtige soziale Funktion, indem sie den FabrikarbeiterInnen, Bauarbeitern und Einheimischen, auch den Alten aus dem Heim, ein Stück Zuhause in wiederkehrenden Ritualen bieten, eine fast therapeutische Begleitung im Lebenskampf. Aber da sind auch Alkoholexzesse, Anzüglichkeiten, Klatsch und Tratsch, ständiges Anschreibenlassen, weil das Geld nicht reicht.

Der innere Bruch mit den Eltern, die alles für den sozialen Aufstieg ihrer, so glaubt sie damals noch, einzigen Tochter tun, erfolgt erst, als sie während der Schulzeit, vor allem im Gymnasium, beginnt, ihre Eltern von außen zu sehen. Wann hat sie bemerkt, dass der Nachttopf stinkt, die Wandfarbe hässlich ist und die Männer in der Kneipe alte Saufbrüder sind, fragt sie sich selbst. Der Vater fährt sie liebevoll, auf der Fahrradstange sitzend, zur Schule, aber er trägt einen Blaumann, für den sie sich schämt.

Zwei Welten

Die Sprache, in der die Lehrerin dafür sorgt, dass die Mäntel an den Kleiderhaken gehängt werden, ist eine völlig andere als die der Mutter, wenn diese schreiend das Gleiche will, obwohl es bei ihr keine Kleiderhaken gibt. Die Tochter hört Wörter, die sie nicht kennt: "Fensterflügel", "Kellerfenster", und lernt Wörter von Dingen, die sie nicht kennt. Sie lebt in zwei unterschiedlichen Welten, deren Codes sehr verschieden sind, sie fühlt sich ausgegrenzt, heimat- und orientierungslos. Ihre Welt muss sie an der Schultüre zurücklassen, in der Welt der Schule weiß sie nicht, wie sie sich benehmen soll.

Die Schule macht die kleine Königin der elterlichen Kneipe zur Außenseiterin, über die man sich lustig macht, die man demütigt. Der Priester verteufelt in der Beichte ihre kleinen körperlichen Freuden als Todsünden. Ihre Rache werden ihre bald überdurchschnittlichen schulischen Leistungen sein – so gelingt es ihr zwischen acht und zwölf Jahren, ihre beiden unterschiedlichen Welten im Gleichgewicht zu halten, sich zwischen ihnen hin und her zu bewegen. Erst als sie die Literatur entdeckt, kann sie sich endlich befreien und in ganz andere Welten gleiten, sich in ganz andere Personen verwandeln, ganz andere Dinge erleben.

Zeitweise fühlt sie sich wie eine Figur aus einem Roman von Françoise Sagan. Dieser Befreiungsschlag wird ihr Leben verändern, die Literatur ihr Leben bestimmen, die Loslösung vom Elternhaus besiegeln, nicht ohne Schuldgefühle. Ihr Blick auf ihr Zuhause wird gnadenlos: Das Chaos, der Schmutz und die Unordnung, das Fehlen eines Rückzugsorts, die lauten Streitigkeiten, die ständigen Beleidigungen, die fehlenden Tischmanieren, das Fehlen von Manieren überhaupt, die vulgäre Sprache und der schlechte Geschmack der Eltern, die fehlende Bildung, die Anzüglichkeiten der Kunden, alles wird ihr immer unerträglicher.

Buchcover Die leeren Schränke
Annie Ernaux, "Die leeren Schränke." € 23,70 7 218 Seiten. Suhrkamp, Berlin 2023
Suhrkamp Verlag

Kraft der Literatur

Als sie das alles endlich hinter sich lassen und in Rouen mit einem Stipendium studieren kann, fällt es ihr unglaublich schwer, die Eltern einmal im Monat zu besuchen. Man hat sich nichts zu sagen, keine gemeinsame Sprache, und doch muss sie ihren Eltern dankbar sein, die ihr immer noch jeden Wunsch erfüllen. Sie träumt von einer "richtigen" Familie, wohlsituiert, gepflegt, gebildet, höflich im Umgang, die Mutter mit Perlenkette und literarisch interessiert, und beginnt die Eltern zu hassen, schließlich sich selbst für diesen Hass. Die Literatur erfüllt sie, die Nationalbibliothek ist ein Tempel der Literatur, aber die Beziehung zu einem Jurastudenten aus besseren Kreisen – Entjungferung im 2CV – zeigt ihr, wie wenig sie Verhaltens- und Bildungscodes kennt, wie weit entfernt sie, der Klassenflüchtling, vom selbstverständlichen saturierten Lebensgefühl der Bourgeoisie ist. Sie lernt Kultur aus dem Lexikon und kann trotzdem nicht mitreden, bleibt eine "cul-terreuse", ein Bauerntrampel, so das Lieblingsschimpfwort des überheblichen Liebhabers.

Sie wird ihren Abschluss in Philologie machen, "fast wie Simone de Beauvoir", doch nach acht Monaten Beziehung weiß sie, dass sie nie dazugehören wird. Die ungewollte Schwangerschaft aber bedroht ihr eigenes Lebensziel: "Im Sex hatte mich meine Herkunft eingeholt, und was da in mir heranwuchs, war gewissermaßen das Scheitern meines sozialen Aufstiegs", wird sie später in Das Ereignis schreiben. Das Buch Die leeren Schränke endet, wie es begonnen hat, auf dem Küchentisch der Engelmacherin.

Starke Emotionen

Die allerschlimmsten Details diese Abtreibung wird Annie Ernaux erst Jahrzehnte später benennen können. Es ist spannend, in diesem Erstlingswerk die Anfänge der großen Schriftstellerin nachzuvollziehen. Vieles ist schon da: die genauen Milieubeschreibungen, der nüchterne Duktus, das Einblenden von Zeitereignissen – die Ermordung Kennedys etwa – , Chansontitel der Epoche, Werbeplakate, Markennamen etc., aber alles wird den starken Emotionen, die ihr Ablösungsprozess auslöst, untergeordnet. In ihrem filmischen Erinnerungsessay Les années Super 8, den sie letztes Jahr mit ihrem Sohn David in Cannes vorgestellt hat, sieht man sie in einer einzigen Einstellung am Schreibtisch bei der Arbeit.

Ihr erstes Buch hat sie heimlich geschrieben, da war sie Ehefrau, Lehrerin und Mutter zweier Söhne. Die Ehe wird scheitern, sie wird innerlich vereisen und sich trennen, wird immer wieder ihrem Leben erinnernd nachspüren, eine erfolgreiche Schriftstellerin werden und in der Lage sein, ihrem Vater und ihrer Mutter ein berührendes Denkmal zu setzen – Der Platz und Eine Frau – sowie in Die Jahre eine ganze Epoche in ihren charakteristischen Merkmalen zu beschreiben, um für uns alle etwas von der Zeit zu retten, "in der man nie wieder sein wird". (Barbara von Machui, 29.9.2023)