Die Wasserburg Heidenreichstein im Bezirk Gmünd im Waldviertel
"Heidenreichstein vermittelt den Eindruck eines intakten Feudalismus mit der Dreiteilung in Volk, Kirche und herrschaftliche Burg", schreibt Kurt Leutgeb über seinen Besuch im Waldviertel.
IMAGO/Zoonar

Elite Tours fährt um 14 Uhr vis-à-vis dem Bühneneingang der Wiener Staatsoper ab. Es sind nur ganz wenige Plätze im Bus besetzt, und ich bin der bei weitem jüngste Passagier. Jahr für Jahr habe ich das riesige Plakat von Literatur im Nebel gesehen, bin aber nie hingefahren. Zu J. M. Coetzee kann ich nicht nicht fahren. Seit mir mein Bruder 1996 The Master of Petersburg zum Geburtstag geschenkt hat, habe ich alles vom früheren Südafrikaner und jetzigen Australier mehrmals gelesen.

Von Restkarte zum besten Platz

Die Busfahrt hin und retour hat mich dreißig Euro gekostet, die Eintrittskarte für den Samstag zwanzig. Ich habe "den besten verfügbaren Platz", Sitz 68, bekommen, in einer Halle für 700 Leute sicher ein guter Platz. Als ich mit achtzehn nach Wien kam, ging ich oft in die großen staatlichen Renommiertheater, üblicherweise auf den Stehplatz, sehr selten aber mit einer Restkarte in die erste oder zweite Reihe Parterre. Seither weiß ich, dass ein guter Platz aus gutem Grund gut heißt.

Der Bus biegt in einen Feldweg ein, was mich an den Text von Heidegger erinnert. Der Feldweg läuft von der Landstraße auf einen riesigen Parkplatz. Mitten unter den unzähligen teuren Privatwagen hält der Bus. Man muss Heidegger zugutehalten, dass er nach Todtnauberg immer mit dem Bus fuhr. Zwischen dem Schwarzwald und dem Waldviertel gibt es überall Feldwege, nicht aber in Südafrika und Australien.

Weichbilder

Von der bemoosten Terrasse der aufgelassenen Pizzeria blicke ich auf die Wasserburg hinunter. Da es ein strahlend schöner Märztag ist, spaziere ich zur Burg. Das Weichbild Heidenreichsteins vermittelt den Eindruck eines intakten Feudalismus mit der Dreiteilung in Volk, Kirche und herrschaftliche Burg. Die deutschsprachige Wikipedia tituliert die Besitzer der Burg mit "Graf" und "von". Als Festivalgründer Rudolf Scholten geboren wurde, stand die Burg im Besitz der Familie seiner Mutter. Ich überquere die Zugbrücke und betrete den Burghof. Sie haben Möbel aus dem elften Jahrhundert und bewirtschaften dreitausend Hektar. Saßen die Herrschenden in den letzten tausend Jahren je so sicher im Sattel wie heute in ihren Land Rovers? Wenige Kilometer weiter nördlich, im postkommunistischen Tschechien, wird sogar vom Volk an den Adel restituiert. Der Rechtsstaat ist eben aus dem Feudalismus entstanden.

Ich tausche meine Eintrittskarte bei einer vertrauenswürdigen Einheimischen gegen ein kleines Band, das sie an meinem Handgelenk befestigt. Während ich in die Halle hinuntersteige, fällt mir auf, dass die Nummer 68 auf dem Band nicht vermerkt ist. Die Margithalle ist schon gut gefüllt. In den ersten Reihen sind noch Plätze frei, jedoch durch Schals reserviert. Wie lang die Schals der Bourgeoisie sind! Die Plätze sind gar nicht nummeriert. Auf dem Stehplatz in der Staatsoper haben manchmal Touristen gegen die Schals der Wiener Absentisten aufzubegehren versucht, immer erfolglos. Ich bahne mir geduldig den Weg zum nächsten freien Platz. Es ist tatsächlich ungefähr die Nummer 68, nur halt vom hinteren Ende des Saales.

Eine Moderatorin rekapituliert die Ereignisse des Vortags und preist die Schauspielerinnen und Schauspieler, welche trotz Drehtagen mit bedeutenden Regisseuren, Theaterproben an wichtigen Häusern und Fernsehauftritten mit spektakulären Einschaltquoten hierher ins so abgelegene Heidenreichstein gereist sind. Sie behauptet fälschlich, Coetzee sei der einzige Autor, der den Bookerpreis zweimal gewonnen habe. Sie nennt Coetzee den "Ehrengast".

Machtgefälle

Einige überwiegend junge, überwiegend deutsche Autor:innen und Schauspieler:innen lesen aus der deutschen Übersetzung von Boyhood. Eine der Lesenden ist braun, was mich beruhigt, denn das Publikum ist so geschlossen weiß, dass man sich im Südafrika der Apartheid-Ära wähnen könnte. Eine andere trägt mit starkem slawischem Akzent vor, was dem Text angemessener ist als die TV-teutonischen Töne. Dann liest eine österreichische Schauspielerin aus Elizabeth Costello. Zwischendurch darf auch John, wie der detachierte Coetzee auf den Plakaten genannt wird, kurz auf die Bühne. Schließlich, nachdem ich schon seit geraumer Zeit den Blick durch die Margithalle habe schweifen lassen wie der Leutnant Gustl durch die Hofoper, verkündet die Moderatorin, es folge nun eine Pause, in welcher der Ehrengast Bücher signieren werde. An einem Tisch auf der Hinterbühne sitzt der große Mann. Ein einheimischer Helfer instruiert die Wartenden, zeiteffizient vorzutreten. Alle anderen haben Taschenbuchausgaben deutscher Übersetzungen mitgebracht, nur ich ein festgebundenes englisches Original mit Schutzumschlag.

Was soll ich zu ihm sagen? Es besteht ein unglaublich großes Machtgefälle zwischen ihm und mir. Ich weiß, dass er beim Begräbnis seiner geschiedenen Frau geweint hat; ich weiß um den Tod seines Sohnes und die Umstände seiner Tochter; ich weiß, dass er unter Schlaflosigkeit leidet, die sich mildert, wenn er auf der Nordhalbkugel weilt. Vor allem ist mir von den hunderten Stunden Lektüre sein Denken, Fühlen und Trachten zutiefst vertraut, während ich für ihn nur ein anonymer stiller Pilger bin. Die Blaskapelle spielt When I’m Sixty-Four. Während ich sechzehn Jahre unter dieser Marke bin, ist Coetzee fast ebenso viele darüber.

Auf die Barbaren warten

Ich könnte ihn fragen, ob Zbigniew Herberts Gedicht über die Nachwelt für die Jesus-Trilogie eine ähnliche Rolle gespielt habe wie Kavafis für Waiting for the Barbarians. Dann könnte ich ihm erklären, warum ich Kavafis sehr schätze, gegen Herbert aber ... Nein, so viel Zeit ist nicht. Besser ihm schmeicheln, dass er eine neue, Platon mit Cervantes verbindende englische Prosa begründet habe. Oder ein vernachlässigtes Werk von ihm loben, etwa seine Drehbücher. Aber für die Verfilmungen wurden die Scripts anderer verwendet. Lieber seine Übersetzungen aus dem Niederländischen, am allerbesten Hugo Claus’ Gedicht über Shelley, wo er "heiden" als "infidel" und "heidendom" als "infidelism" übersetzt, was mir unglücklich erscheint, und ich könnte zu seinem Essay über Samuel Beckett überleiten ...

Der Helfer winkt mich weiter. Ich bin der Nächste. Natürlich weiß ich längst, was ich sagen werde. Ich werde sagen, was ich am besten kann, weil ich es studiert und praktiziert habe und die nötige Nonchalance als Talent mitbringe. Heute lernt man dort auch Queerness und MeToo, doch zu meiner Zeit als Anglistikstudent galt an der Uni noch die reine Lehre, deren hehrstes Ziel es war, einen Gruß am englischen Königshof so entbieten zu können, dass man nicht ungut auffiel.

"Good evening", sage ich.

"Hi", sagt J. M. Coetzee.

Alle mir zur Verfügung stehende Erudition und Energie hatte ich in meine drei Silben gelegt, und mit einer einzigen hat Coetzee mir allen Wind aus den Segeln genommen. Es war überhaupt nicht der Coetzee, den ich seit 1996 kenne, der "Hi" sagte, sondern einer der Partyautoren, die er am Strand mit den Mädels abhängen sieht und bei denen er sich fragt, wann die ihr Werk schreiben.

Alle meine Energie hatte ich in drei Silben gelegt, und mit einer einzigen hat Coetzee (im Bild) mir allen Wind aus den Segeln genommen.
P. Matsas/Opale/Leemage/laif

Schweigen ist Gold

Coetzee erwartet offenbar, dass ich noch etwas sage. Schweigen ist Gold, auch wenn — aber damit kann ich ihm nicht kommen — in meinem Roman Mensch das Gold dem Affen entspricht. Er signiert. "Thank you very much", artikuliere ich wie ein tausendjähriger Adel.

Benebelt sitze ich auf meinem schlechten Platz. Wie konnte in einem "Hi" eine ganze Welt liegen? Und niemand tue mir das h als bloße Behauchung ab! Coetzees h hatte eine starke und prolongierte Friktion an der Glottis, die vielleicht meinem "Good evening" unterstellen sollte, es sei outriert gewesen, jedenfalls aber auf das tiefgründige ai vorbereitete, welches als Diphthong ja sogar zwei Laute beinhaltet, die der Sprecher noch dazu neckisch in die Länge zog. Nie haben zwei Phoneme mehr bedeutet.

Auf der Bühne sind zwei deutsche Schauspieler. Mir scheint, dass sie überhaupt nur "Heidenreichstein" bald feixen, bald sagen, bald kreischen, doch dann verstehe ich, dass sie das Gedicht Heidenreichstein von Ernst Jandl rezitieren. "Ch - sch - t! Ch - sch - t! H - h - h / Ei - ei -ei / Hei Heide Heiden / REICH - sch -t, REICH - sch - t." Dann brüllen sie abwechselnd "Heidenreichstein" und rattern das r wie Hitler. In der berühmten Aufnahme aus der Königlichen Alberthalle betont Jandl das Wort natürlich richtig. Einer der bedeutenden Regisseure der Moderatorin hieß doch Stein, vielleicht wollen die Schauspieler aus Ehrfurcht seinen Namen nicht betonen?

Im Elitebus zurück

Coetzee liest aus dem Manuskript von The Death of Jesus. Mehrere Male sagt er statt spanisch "Davíd" englisch "David". Vielleicht hätte ich ihn über seinen verstorbenen Bruder David befragen sollen? Zu persönlich. Ist es möglich, dass er absichtlich einen Aussprachefehler macht, damit den anderen ihre eigenen weniger peinlich sind, so wie der Kaiser Franz Joseph einmal eruktierte, um es dem orientalischen Ehrengast gleichzutun?

Am Schluss kommen alle Mitwirkenden noch einmal auf die Bühne und sagen, sowohl einzeln als auch im Chor, "Heidenreichstein". Als die Moderatorin das Festival schon für beendet erklärt hat, schnappen sich die beiden Schauspieler noch einmal das Mikro und rufen eine Minute lang "HeidenREICHstein".

Unter einem wunderschönen Sternenhimmel stehe ich auf dem Parkplatz. Die Abfahrtszeit des Elitebusses ist 22.45 Uhr, doch es ist erst 21 Uhr. Man hat eine Stunde früher Schluss gemacht. Die Privatautos fahren über den Feldweg davon. Beim Einstieg in den Bus, sodass alle an ihr vorbeimüssen, sitzt Heide Schmidt und strahlt ihr Politikerinnenlächeln. Dann wechselt sie auf die linke Seite. Die Araber, zu denen Jörg Haider gern mit ihr fuhr, glaubten, sie seien verheiratet, Haider der Löwe und Heide seine Löwin. Ihr Deutsch hat keinerlei österreichische Färbung, aber sie sagt richtig "Heidenreichstein". Am Schwedenplatz lässt sie den Bus anhalten. Ich helfe ihr beim Aussteigen mit dem Gepäck. (Kurt Leutgeb, 29.9.2023)