Zwei Kinder beißen in Hamburger
Armut bringt nicht nur ungesunde Ernährung mit sich, sie beeinflusst das gesamte Leben. Um hier etwas zu verändern, ist auch die Politik massiv gefordert.
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Ein Burger bei McDonald's, so lautet die Kanzler-Empfehlung für eine warme Mahlzeit – wenn man sich sonst nichts leisten kann. Warum das keine gute Idee ist, hat DER STANDARD hier berichtet. Auch Nehammer ist durchaus bewusst, dass so eine Mahlzeit nicht unbedingt gesund ist. Aber dann ist Schluss mit der Einsicht. Der Kritik an dieser zynisch anmutenden Äußerung entgegnet die ÖVP, die (gesunde) Ernährung ihrer Kinder liege in der Verantwortung der Eltern. Doch damit mache man es sich zu leicht, sagt Thomas Wochele-Thoma, Allgemeinmediziner, Psychiater, Psychotherapeut und ärztlicher Leiter bei der Caritas Wien: "Die Politik muss die Rahmenbedingungen schaffen, die es Eltern ermöglichen, ihre Kinder gesund zu ernähren."

Prinzipiell gäbe es diese Rahmenbedingungen auch, in einem langen Prozess mit Teilnehmenden aus Politik und Gesellschaft hat man sich auf zehn Gesundheitsziele für Österreich geeinigt. Diese bilden den Handlungsrahmen für eine gesundheitsförderliche Gesamtpolitik, der bis zum Jahr 2032 umgesetzt werden soll. Insbesondere zwei dieser Ziele streicht Wochele-Thoma in Bezug auf die Ernährung hervor: Gesundheitsziel 6 ist, "gesundes Aufwachsen für Kinder und Jugendliche bestmöglich zu gestalten". Und Gesundheitsziel 7 ist, "gesunde und nachhaltige Ernährung für alle zugänglich zu machen".

Und genau hier lasse die Politik aus, betont der Arzt und Therapeut. Nur ein Beispiel: "Hochverarbeitete Lebensmittel, Fastfood oder Süßigkeiten werden massiv beworben, vieles richtet sich sogar direkt an die Kinder. Hier wäre es ganz klar Aufgabe der Politik, regulierend einzugreifen." Denn diese intensive Bewerbung ist eine permanente unbewusste Suggestion, dass das, was da auf der Packung so appetitlich aussieht, doch eh ganz gesund sei. Mit der Folge, dass man den langfristigen gesundheitlichen Schaden einfach unterschätze.

Permanentes Stressgefühl

Natürlich kann man auch um wenig Geld eine gesunde Mahlzeit auf den Tisch stellen. Doch genau hier machen sich die Auswirkungen von finanziellen Notlagen bemerkbar. Denn Armut ist purer Stress. Diese Tatsache verlieren Menschen, die sich noch nie längerfristig in einer finanziell stark angespannten Situation befunden haben, leicht aus den Augen.

Dabei ist es eigentlich offensichtlich, sagt Wochele-Thoma: "Wenn ich nicht weiß, wie ich bis zum Monatsende mit dem Geld, das mir zur Verfügung steht, durchkomme, wenn ich jeden Tag aufs Neue mit dem Rotstift entscheiden muss, was sich noch ausgeht und was nicht, wird der Körper permanent mit Adrenalin und Cortisol geflutet. Dieser ständige Stress-Trigger führt auf Dauer zu Schlafstörungen, zahlreichen gesundheitlichen Problemen oder sogar zu Depressionen." Oft fehle dann einfach die Energie, gesund zu kochen, der Griff zum Fertigprodukt ist die einfachere Handlung.

Das setzt aber einen womöglich lebenslangen Teufelskreis in Gang. Werden Kinder nämlich bereits in jungen Jahren auf Fett und Zucker, zwei wesentliche Bestandteile von Junkfood, eingestimmt, hat das langfristig nicht nur Übergewicht, womöglich Bluthochdruck und Diabetes zur Folge. Auch das Gehirn stellt sich auf diese Inhaltsstoffe ein, es entsteht eine Art Suchtdynamik. "Und wenn man schon von klein an in dieser Spirale drinsteckt, ist es unendlich schwer, da auszusteigen."

Dazu kommt, dass Kinder natürlich den elterlichen Stress, den permanente Geldsorgen erzeugen, spüren. Ganz unmittelbar, weil in finanziellen Notlagen gesellschaftliche Aktivitäten als Erstes dem Rotstift zum Opfer fallen. "Gesellschaftliche Teilhabe ist extrem wichtig für die Gesamtgesundheit, aber sie kostet auch Geld", betont Wochele-Thoma. Aber auch langfristig, weil daraus ein Stigma entsteht, das stark mit Scham behaftet ist. Und das sorgt auch bei den Kindern für Stress.

Mehr Gesundheitswissen lehren

Und hier kommt die Politik wieder ins Spiel. Was in Österreich nämlich wenig bis gar nicht gelehrt wird, ist Health Literacy, also Gesundheitswissen. Dazu gehört nicht nur das Wissen darüber, was gesund ist und wie eine vernünftige Ernährung aussieht, das wissen nämlich sehr viele Menschen. Es beinhaltet auch die Möglichkeit, dieses Gesundheitswissen anzuwenden und umzusetzen. Für Kinder wäre so eine Möglichkeit etwa das vielfach geforderte kostenlose Angebot einer gesunden Jause in der Schule. So bekommen sie nicht nur die Möglichkeit zu lernen, wie gesunde Ernährung aussieht. Sie haben auch unmittelbar mehr Energie zum Lernen, und das kann langfristig einen enormen Vorteil auf ihrem Lebensweg bedeuten.

Bleibt die Frage, warum sich Eltern nicht zumindest ihren Kindern zuliebe aufraffen und jene Hilfsangebote aus der Armut heraus annehmen, von denen es in Österreich ja viele gibt. „Es stimmt, dass es der Politik gelungen ist, einige wichtige Hilfsmaßnahmen auf den Weg zu bringen. Für armutsbetroffene Familien ist aber auch der Druck massiv gestiegen. Gerade jene, die vor der Krise schon in der Krise waren, belasten steigende Mieten, Energie- und Lebensmittelpreise besonders stark. Viele Menschen, die sich hilfesuchend an die Caritas wenden, müssen sich am Monatsende entscheiden, ob sie ihre Fixkosten bezahlen oder den Kühlschrank auffüllen", sagt Wochele-Thoma.

Der Psychotherapeut weiß außerdem, dass es Menschen gibt, die sich schwer tun, Hilfe anzunehmen, auch weil Armut sehr schambehaftet ist. Man müsse da immer genauer hinschauen. Er glaubt, dass der Mensch ein Wesen ist, das immer Sinn braucht und sucht. "Aber wenn Menschen, aus welchem Grund auch immer, nicht ausreichend an der Gesellschaft teilhaben, sich nicht wirklich integrieren können, dann fällt es schwer, diesen Sinn zu finden. Und je länger man nicht eingebunden ist, je öfter man ohne Erfolg versucht hat, wieder Anschluss zu finden, desto schwerer fällt es, sich ein weiteres Mal aufzuraffen."

Eine solidarische Gesellschaft sollte darum genau dorthin ihren Blick richten und versuchen, diese abgehängten Gruppen wieder in die Gesellschaft zu holen. "Dazu müsste sich aber auch die Durchlässigkeit der gesellschaftlichen Schichten verbessern." Und die Politik muss ihre Verantwortung aktiv wahrnehmen. (Pia Kruckenhauser, 30.9.2023)