Schlange vor einer Essensausgabestelle der Caritas: Etwa eine halbe Million Menschen geben an, sich kein vollwertiges Hauptgericht alle zwei Tage leisten zu können.
Regine Hendrich

Wird die Lage in Österreich schlechtgeredet? Es war diese Vermutung, die Karl Nehammer zu seiner Wutrede mit denkwürdiger Pointe veranlasste. Niemand könne ernsthaft behaupten, Eltern könnten sich für ihre Kinder keine warme Mahlzeit leisten, erklärte der Kanzler vor Funktionären: Ein Hamburger samt Pommes bei McDonald's gehe sich jedenfalls aus.

Die Statistik Austria bietet nüchterne Zahlen zur emotionalen Debatte. In der Reihe "So geht's uns heute" analysiert die Institution vierteljährlich die sozialen Folgen der Krisenjahre. Seit Dienstagmorgen liegen die aktuellsten, aus dem zweiten Quartal des laufenden Jahres stammenden Daten dieser regelmäßigen Befragung unter gut 3.300 Menschen zwischen 18 und 74 Jahren vor.

Die Ergebnisse bergen Diskussionsstoff. Denn eigentlich deuten Einkommensprognosen und Berichte der Hilfsorganisationen über lange Schlangen vor Sozialberatungsstellen darauf hin, dass sich die Situation für ärmere Menschen heuer deutlich verschlechtert hat. Doch so eindeutig ist das nun gezeigte Bild nicht.

Wenn das Geld ausgeht

Das gilt etwa für die Frage, ob die Leute mit ihrem Einkommen auskommen. Rund 17 Prozent gaben an, die laufenden Ausgaben ihres Haushalts nur mit Schwierigkeiten decken zu können, hochgerechnet wären das 1,2 Millionen Menschen. Der Anteil ist seit einem Jahr im Wesentlichen konstant. Ein größerer Sprung hatte aber bereits vom ersten Quartal (rund 13 Prozent) auf das zweite Quartal 2022 (16 Prozent) stattgefunden.

Eine kurzfristige Verschlechterung schlug sich allerdings bei alleinerziehenden Eltern nieder: Statt noch 30 Prozent zu Jahresbeginn geben nun bereits 37 Prozent an, mit dem Einkommen nur schwer das Auslangen zu finden. Besonders stark betroffen sind Personen mit niedrigem Einkommen (44 Prozent) und in Arbeitslosigkeit (42 Prozent).

Gesunken ist hingegen die Zahl jener, die in den letzten zwölf Monaten Einkommensverluste registrierten: 33 Prozent berichten von Einbußen, gut 21 Prozent von einem Zuwachs. Vor einem Jahr betrug das Verhältnis noch 37 zu 20 Prozent.

Nach unten weist der Trend auch in der von Nehammer aufgeworfenen Essensfrage. 7,8 Prozent gaben an, sich nicht zumindest jeden zweiten Tag ein Hauptgericht leisten zu können; gemeint ist eine vollwertige Mahlzeit mit Fleisch, Fisch oder entsprechenden vegetarischen Zutaten. Im ersten Quartal des heurigen Jahres lag der Anteil mit 9,5 Prozent noch signifikant höher, vor einem Jahren waren es 8,1 Prozent.

Weniger Menschen als vor zwölf Monaten können sich hingegen laut eigener Auskunft leisten, abgenutzte Möbel zu ersetzen (von 14,5 auf 19,3 Prozent), abgetragene Kleidung auszutauschen (7,2 auf 9,8 Prozent), einen jährlichen Urlaub anzutreten (24,8 auf 29,6 Prozent) und die Wohnung warm zu halten (8,4 auf 10,8 Prozent).

8,6 Prozent schaffen es demnach nicht, Mieten, Betriebskosten oder Kreditraten zu zahlen – ein Plus gegenüber dem ersten Quartal 2023 (6,6 Prozent), aber ein Minus im Vergleich zur Lage vor einem Jahr (9,1 Prozent). Generell empfinden 22 Prozent Wohnungskosten als schwere Belastung, vor einem Jahr waren es 18 Prozent. Allerdings ist die Zahl der Personen, die in den kommenden drei Monaten Zahlungsschwierigkeiten bei den Wohnkosten erwarten, seit Jahresbeginn von 24 auf 19 Prozent gesunken.

Entspannung oder Krise?

Sozialminister Johannes Rauch liest aus diesen Daten heraus, dass die Maßnahmen der Regierung wirkten: "Insgesamt entspannt sich die soziale Lage." Das gewerkschaftsnahe Momentum-Institut hingegen fragt sich, wie der Grün-Politiker auf diesen Schluss kommen könne. Da lebensnotwendige Dinge im Vergleich zum Vorjahr für mehr Menschen unleistbar geworden seien, müsse die Armutsbekämpfung "dringend auf die politische Agenda", so die Forderung.

Zu betonen ist: Bei den Angaben handelt es sich um keine überprüften Fakten, sondern um subjektive Einschätzungen über die eigene Lebenssituation. Was jemand unter einem vollwertigen Essen oder unter abgetragener Kleidung versteht, kann von Person zu Person stark variieren. Auch persönliche Ängste und die allgemeine Stimmungslage im Land können die Antworten beeinflussen. Die Ergebnisse liefen wohl auf eine Mischung aus tatsächlicher materieller und gefühlter Lage hinaus, sagt Martin Schenk, Sprecher der Armutskonferenz.

Insgesamt hätten die Krisen die Lage der Ärmeren schon verschlechtert, aber nicht so stark wie befürchtet, fasst der Experte Schenk zusammen: Die staatlichen Hilfen, die guten Lohnerhöhungen und die solide Konjunktur hätten die Situation zuletzt stabilisiert. Nur bei den Wohnkosten sei das offenbar nicht genug gelungen.

Apropos Stimmung: Optimismus ist nun zwar etwas weiter verbreitet als noch vor einem Jahr, aber immer noch spärlich gesät. Gerade zehn Prozent erwarten, dass sich die Wirtschaftslage in Österreich innerhalb der nächsten zwölf Monate verbessern wird. Gleich 60 Prozent rechnen mit einer Verschlechterung. (Gerald John, 3.10.2023)