Ronnie Wood, Keith Richards und Mick Jagger von den Rolling Stones, das sind 235 Jahre Rock'n'Roll. Ihr Album
Ronnie Wood, Keith Richards und Mick Jagger von den Rolling Stones, das sind 235 Jahre Rock'n'Roll. Ihr Album "Hackney Diamonds" fährt ganz schön. Nur das Cover ist von besonderer Abscheulichkeit.
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Sollte das ihr Abgesang sein, dann haben sie den gut hingekriegt, da schließt sich am Ende ein Kreis. Nach elf eigenen Songs kommt einer von Muddy Waters. Das ist stimmig. Schließlich haben sich die Rolling Stones Anfang der 1960er-Jahre ihren Namen bei dem legendären Blueser geborgt. Waters’ Rolling Stone Blues beschließt das neue Album der Stones. Es heißt Hackney Diamonds und erscheint am 20. Oktober, noch 14-mal schlafen.

Eingespielt wurde es in New York, London und sonst wo in den Jahren 2021 bis 2023. Es beinhaltet die letzten Aufnahmen von Charlie Watts aus dem Jahr 2019 – der Schlagzeuger der Stones ist im August 2021 gestorben. Elton John hat auf ein paar Tasten vorbeigeschaut, Paul McCartney Bass gespielt, Lady Gaga und Stevie Wonder waren da, sogar Bill Wyman – und Covid schwebte als dunkle Wolke über allem.

Video: Rolling Stones bringen im Oktober Album mit neuen Songs heraus
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Sein Name gibt dem Album die Richtung, lässt Verwegenes erwarten. Denn Hackney Diamonds beschreibt jenen Scherbenhaufen, der nach einem Einbruch vom Auslagenfenster zurückbleibt – zumindest im gleichnamigen Londoner Viertel. Da zeigt sich eine Outlaw-Renitenz, und die lösen diese Könige des Falten-Rock im siebenten Jahrzehnt ihres Bestehens durchaus ein.

Die Musik überrascht in ihrer Frischzelligkeit und hat Biss. Selbst wenn sich der schon länger bekannte Opener Angry als besseres Mittelmaß erweist, das Riff, das Keith Richards da spielt, ist natürlich Eins-a-Hausmarke. Seit 2005 haben die Stones kein Album mit selbstverfassten Titeln veröffentlicht. Und angesichts des Alters der Protagonisten ist es nicht pietätlos zu sagen, dass viele nicht mehr folgen werden. Da gilt: Carpe diem, und das tun sie.

The Rolling Stones | Sweet Sounds Of Heaven (Edit) | Feat. Lady Gaga & Stevie Wonder | Lyric Video
The Rolling Stones

Songs wie Get Close,Bite My Head Off oder Whole Wide World klingen, als wollten die Stones noch einmal die Welt erobern. Jagger dehnt anlassig die Silben und singt "I’m fucking with your brain". Der Sex des Alters. Derbe Gitarren, krachiges Schlagzeug, Hooklines. Das gilt es anzuerkennen, das können sie, da zählt der Wille mindestens so sehr wie das Ergebnis – und das ist erstaunlich.

"It’s only rock 'n' roll but I like it"

Aber wie immer ist es schwierig, das wissen Mick Jagger (80), Keith Richards (79) und Ronnie Woods (76). Die größten Gegner jedes neuen Albums sind die Klassiker der frühen Jahre. Also ein paar Dutzend nicht tot zu spielende Songs, die zum Weltkulturerbe zählen, die Epochen begleitet und definiert haben.

Diesem Kanon gleichwertige neue Titel hinzuzufügen gelingt den Briten schon seit langer Zeit nicht mehr, es hielt sie aber nicht davon ab, neue Alben zu veröffentlichen. Sie ergeben sich da ganz ihrem eigenen Motto: It’s only rock 'n' roll but I like it.

Das ist dieselbe Attitüde, mit der sie seit Jahrzehnten auf Stadiontourneen gehen. Und wer im Vorjahr ihren Auftritt in Wien erleben konnte, weiß, den Alten macht es immer noch Spaß, die Honky Tonk Woman hochleben zu lassen. Und manch ein 60-Jähriger wäre gerne so fit wie Jagger.

The Rolling Stones - Angry (Official Video)
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Nach fünf Liedern auf Hackney Diamonds ist dann einmal Pause mit der Revolution. "I’ve got to take a break from it all", singt Jagger in Dreamy Skies. Das ist ein Countrysong: Beserlschlagzeug, Slide-Gitarre, Ruhepuls. Gleichzeitig ist er ein Verweis auf die eigene Vergangenheit, auf die tiefe Verliebtheit der Stones in den Blues und seine Bastarde, aufgrund derer diese Band einst zusammenfand. Der Song ist angemessen schief, keine Beschönigungen, schön dreckig. "Yeah!", hört man am Ende des Lieds jemanden sagen. Dem kann man sich anschließen.

Mess It Up führt die Band wieder auf die Überholspur, die Stones haben Spaß, wärmen sich auf für Live By The Sword und sein Boogie-Klavier. Schade, dass es nicht die Räude von Dreamy Skies besitzt – dann bricht es ab.

Driving Me Too Hard klingt wie ein Geständnis, so als hätte man sich jetzt verausgabt. Tatsächlich sind die folgenden beiden Songs Balladen, die im Bombast ihr Heil suchen anstatt im Gefühl. "I’m too young to die but too old to lose", singt Jagger weiter vorne auf dem Album. Schade, dass er das an der Stelle nicht mehr beherzigt. Dennoch: Mit wenigen Abstrichen, zu denen man auch das abartig hässliche Artwork zählen muss, ist das ein ziemlich gutes Werk geworden. Der Rock 'n' Rollator, er muss warten. (Karl Fluch, 6.10.2023)