Die 100 Meter Hürden der Frauen bei den laufenden Asienspielen waren nicht arm an Kontroverse. Vor allem in Erinnerung bleiben wird eine Debatte über einen Frühstart. Die chinesische Mitfavoritin Wu Yanni war zunächst als Schuldige für den abgebrochenen Startversuch ausgemacht und disqualifiziert worden – was Videoaufzeichnungen auch deutlich belegen. Wu aber begann mit den Sportrichtern zu diskutieren, was dazu führte, dass schließlich stattdessen ihre indische Konkurrentin Jyothi Yarraji ins Visier geriet, die, wie Videos zeigen, zwar ebenfalls vorzeitig losrannte, dies aber eindeutig in Reaktion auf Wus Frühstart. Dazu muss man wissen: Die Asienspiele finden heuer im chinesischen Hangzhou statt, Wu war nach einer guten Leistung im Vorfeld von Chinas Medien zu einer Art Sportcelebrity aufgebaut worden. Der Verdacht einer versuchten Einflussnahme ist zumindest nicht von der Hand zu weisen, wie etwa der Sportblog "China Sports Insider" berichtet.

Schließlich durften sowohl Wu als auch Yarraji starten. Wu ging hinter ihrer Landsfrau Lin Yuwei als Zweite ins Ziel, Yarraji als Dritte. Nachträglich wurde Wu doch noch disqualifiziert und postete eine umfangreiche Entschuldigung für ihr Verhalten – womöglich auch unter Anleitung ihres Betreuerstabs. Das alles ist für die chinesischen Organisatoren womöglich etwas peinlich. Es ist aber nicht der Grund, wieso soziale Medien in China mehrere vorerst völlig harmlos erscheinende Bilder zensurieren, die nach dem Zieleinlauf entstanden sind.

Zwei chinesische Sportlerinnen umarmen einander.
Goldmedaillengewinnerin Lin Yuwei (links) mit ihrer Landsfrau Wu Yanni, der später die Silbermedaille aberkannt wurde. In den sozialen Medien Chinas erscheint statt dieses Bildes ein graues Viereck.
AP/Vincent Thian

Die Fotos, die unter anderem von den großen Agenturen Reuters und AP stammen, zeigen Lin und Wu bei einer Umarmung. Dabei sind auch die Nummern der beiden Laufbahnen zu sehen. Lin war auf der Spur mit der Nummer sechs gelaufen, Wu auf jener mit der Nummer vier. In der Umarmung ergibt das die Zahl 64 – und die ist in Chinas sozialen Medien nicht erlaubt. Sie nämlich steht als Zahlencode für den 4. Juni 1989, jenen Tag, an dem die Armee mit brutaler Härte prodemokratische Proteste auf dem Tiananmen-Platz in Peking niederschlug und dabei zumindest mehrere hundert, wahrscheinlich aber tausende Menschen ermordete. Chinas Regierung scheut keine Anstrengungen, um das Ereignis aus der kollektiven Erinnerung zu tilgen. Dies durchaus mit Erfolg, wie zum Beispiel eine Straßenumfrage der BBC aus dem Jahr 2019 eindrücklich zeigt.

Und so kommt es, dass die Algorithmen der chinesischen Netzwächter auch auf das Bild des Hürdenlaufes ansprechen und dieses offenkundig als potenziell gefährlichen Code gegen die chinesische Regierung werten. Wie eine Auswertung, die ebenfalls von der BBC stammt, zeigt, werden etwa auf Chinas meistgenutztem Netzwerk Weibo statt des Fotos der beiden Frauen graue Vierecke angezeigt. Auch in anderen sozialen Medien ist das Phänomen zu beobachten. Dass es sich eher um automatische als absichtliche Zensur handelt, lässt sich deshalb annehmen, weil mehrere chinesische Nachrichtenseiten die Nachricht vom Sieg Lins – einer von mittlerweile 300 chinesischen Medaillen bei den Asienspielen – mit einem der fraglichen Fotos illustrierten.

Oreo-Panzer sind pfui

Die neuen Meldungen über Zensur reihen sich jedenfalls in eine ganze Reihe anderer Berichte über ähnlich skurrile Tiananmen-Gedenk-Verbote. So wurde am 3. Juni des vergangenen Jahres ein Livestream des bekannten Influencers Li Jaiqi abrupt gestoppt, als kurz ein aus Oreo-Keksen gebauter Panzer zu sehen war – was zu verwirrten Reaktionen der Fangemeinde führte, die wegen Pekings erfolgreicher Antierinnerungspolitik ahnungslose Diskussionen darüber begannen, was denn mit dem Panzer los gewesen sei und wofür er stehen könnte.

Verboten sind aber auch Diskussionen über eine ganze Reihe von anderen Themen: So kann auch die Erwähnung der Region Tibet und des Buddhismus, der demokratischen Regierung von Taiwan (oder gar der "Republik China"), der brutalen Unterdrückung der Uiguren, der Sekte Falun Gong oder von MeToo-Vorwürfen gegen politische Kader zur Löschung von Nachrichten führen. Sofern man sich selbst in China befindet, kann es aber freilich auch drastischere Konsequenzen geben. Ebenfalls tabu sind Vergleiche der äußerlichen Erscheinung von Präsident Xi Jinping mit der Disney-Figur Winnie Puuh – auch wenn Berichte über ein Totalverbot des trägen Honigfreundes überzogen sind. Zumindest in diesem Fall. (mesc, 4.10.2023)