Jon Fosse
Ein Gefühl für Rhythmus, wenig Handlung und Wortkargheit zeichnen die Literatur von Jon Fosse (64) aus.
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Am Donnerstag verkündete die Schwedische Akademie den Norweger Jon Fosse als diesjährigen Literaturnobelpreis-Träger. Das ist einerseits überraschend, weil wieder ein Europäer gewinnt. 2012 ist der Preis mit Mo Yan aus China zum bisher letzten Mal an einen Autor oder eine Autorin gegangen, die nicht in Europa oder den USA lebt.

Die Problematik, dass Frauen bei der Preisvergabe lange massiv unterrepräsentiert waren, hat sich inzwischen gebessert. Zunehmend wurde in den letzten Jahren aber gefragt, wie es um die Diversität der Preisträger nach Herkunftsregionen steht. So zeigte sich bei den Wettbüros heuer ein Trend zu Favoriten, die aus Asien, Afrika oder Südamerika stammen. Andererseits hatte Fosse heuer manche Rankings angeführt, seit langem gilt er als Anwärter.

Man darf sich jedenfalls hierzulande nach 2004 für Elfriede Jelinek und 2019 für Peter Handke wieder mitfreuen: Fosse zählt neben Oslo, wo ihm der König ein lebenslanges Wohnrecht in einer Grotte genannten Ehrenwohnung am Schlosspark eingeräumt hat, und Frenkhaug bei Bergen in Norwegen sommers auch Hainburg an der Donau in Niederösterreich zu seinen Wohnsitzen – er ist mit einer slowakischen Wissenschafterin verheiratet.

Stimme fürs "Unsagbare"

Das Nobelkomitee begründete seine Entscheidung mit Fosses "innovativen Theaterstücken und seiner Prosa, die dem Unsagbaren eine Stimme geben". Auf Nynorsk (Neunorwegisch, einer der offiziellen Standardvarietäten des Norwe­gischen) schreibt der 1959 in der Küstenstadt Haugesund geborene Autor auch Lyrik, Essays, Kinder­bücher.

Seine reduzierte Sprache und Handlung werden immer wieder gelobt, der Begriff "Fosse-Minimalismus" hat sich dafür eingeschlichen. Fosses Figuren sind keine, mit denen man den Platz tauschen ­wollte, die wiederkehrenden Motive und Gefühle in seinen Büchern und Stücken sind seit dem Debütroman Raudt, svart 1983 (dt. Rot, schwarz; Fosses Werk liegt auf Deutsch von Hinrich Schmidt-Henkel übersetzt bei Rowohlt vor) Unsicherheit, Angst und Unentschlossenheit.

Die Liste unpopulärer, hier aber literarisch produktiver Empfindungen lässt sich mit Eifersucht und Ohnmacht fortsetzen. Bei der Bekanntgabe wurden aber ebenso Wärme und Humor in seinen Werken gelobt. Fosse vereint teils schlecht vereinbar Scheinendes, verbindet stark lokale Bezüge zu seiner Heimat (wie immer wieder karge Küstenregionen als Schauplätze) mit moderner literarischer Ästhetik. Und auch wenn er vor biblischen Anspielungen nicht zurückschreckt, fußt sein Werk zugleich auf dem ganz konkreten und harten Boden der Realität: Seit den 1990ern schrieb er Stücke über junge schwangere Frauen und frischgebackene Mütter in schweren Lagen oder Frauen, die Selbstmord begehen (etwa Todesvariationen, 2002).

Durchbruch Ende der 1990er

Ein Stück brachte ihm Ende der 1990er auch den Durchbruch: Da kommt noch wer. Seither machte Fosse international am Theater Furore. Er begeisterte mit intimen, rätselhaften und von fluiden Realitätswahrnehmungen geprägten Stücken. Alsbald wurde ihm der Titel "Beckett des 21. Jahrhunderts" verliehen. Heute ist Fosse mit seinen inzwischen über dreißig Theatertexten nach dem Klassiker Henrik Ibsen der weltweit bekannteste Dramatiker Norwegens und in den 2000ern überhaupt einer der meistgespielten Zeitgenossen. Über 1000 Inszenierungen soll es schon geben.

Viele seiner Stücke waren auch in Österreich zu sehen, etwa Traum im Herbst, Da kommt noch wer oder Schlaf, ein Text, in dem im Leben unterschiedlicher Paare die Zeit aus den Fugen gerät. Schon anno 2000 erhielt er für sein Familiendrama Der Name, das bei den Salzburger Festspielen zu sehen war, prophetisch den allerersten Nestroy-Autorenpreis zugesprochen. Auf seinen kargen Theaterböden ringen durchscheinende, melancholisch wankende, immer etwas halbreal wirkende Figuren um Erlösung.

Video: Literaturnobelpreis 2023 geht an Norweger Jon Fosse
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Auch auf Opernbühnen wird er gespielt. Für den Komponisten Georg Friedrich Haas hat Fosse seine frühe Erzählung Morgen und Abend zum Libretto weiterentwickelt. Das 2022 in Graz aufgeführte Werk gilt als eines von Fosses ­hoffnungsvollsten. Ein Sterbender wird darin von seiner Frau und Tochter ins Jenseits geleitet. Man weilt dort ohne Angst inmitten geliebter Menschen. Ist der bibelkundige Dichter gläubig? Zumindest konvertierte Fosse 2013 zum Katholizismus.

Als Lyriker hat er 2013 zuletzt veröffentlicht. Georg Trakls Sebastian im Traum und Rilkes Duineser Elegien hat er indes ins Norwegische übersetzt. Zunehmend hat Fosse sich aber als Romanautor einen Namen gemacht. Zu seinen wichtigsten Prosawerken gehören zwei mehrbändige Projekte, einerseits Trilogie (bestehend aus Schlaflos, Olavs Träume und Abendmattigkeit, von 2007 bis 2014) über Liebe und Gewalt, erzählt anhand des Paares Alida und Asle.

"Bin überwältigt"

Zuletzt hat Fosse die Heptalogie fertiggestellt, bestehend aus dem ersten Band Der andere Name, I–II (ab 2019), den drei nachfolgenden Teilen III–V Ich ist ein anderer und dem Abschlussband Eit nytt namn (Teile VI–VII), dessen deutsche Übersetzung noch aussteht. 1250 Seiten umfasst das Opus, handelt von einem älteren Künstler und seinem Doppelgänger (der eine von ihnen ist erfolgreich, der andere ein Säufer) und durch sie beide vom ­Leben an sich: von Zigaretten, Rockbands, Raufereien, dem göttlichen Leuchten in einem Gemälde, Fischern, Müttern, Vätern, dem Verlieben.

Geheimnisvoll und wortkarg wie sein Werk, reagierte der schon vielfach ausgezeichnete Fosse auf die Nobelpreis-Nachricht nicht. "Ich bin überwältigt und sehr froh und dankbar", zitierte ihn sein norwegisches Verlagshaus Samlaget. "Ich betrachte das als einen Preis an die Literatur, die in erster Linie Literatur sein will, ohne andere Erwägungen." Und in einem ersten TV-Interview legte der Gewinner lachend nach: "Höher als zum Nobelpreis wirst du nicht kommen. Danach geht alles bergab." (Michael Wurmitzer, 5.10.2023)