Im Laufe der Geschichte haben die Menschen verschiedenste Praktiken erfunden, um sich ihrer Toten zu entledigen. Und auch heute stehen mehrere Alternativen zur Verfügung: Neben dem traditionellen Beerdigen am Friedhof bevorzugen viele die – recht energieaufwendige – Einäscherung. Zuletzt entschieden sich in den USA und Europa immer mehr Menschen dafür, nach ihrem Tod zu Kompost werden zu wollen.

Ein anderer ökologischer Trend ist die alkalische Hydrolyse (oder Aquamation), die etwa Desmond Tutu 2022 für seinen Leichnam vorsah: Der Körper wird in einem Druckbehälter aus Edelstahl bei Temperaturen von 150 bis 160 Grad Celsius in konzentrierter Kalilauge binnen weniger Stunden zersetzt. Etwas luftiger ging und geht es in Tibet und anderen Teilen Zentralasiens zu: Da werden im Rahmen einer Himmelsbestattung aufgebrochene Leichen den Geiern offeriert, um so in den Himmel befördert zu werden. (Traditionelle Beerdigungen sind in diesen hochgelegenen Regionen auch deshalb schwierig, weil der Boden so hart ist.)

Tödlicher Leichenschmaus

Im Hochland von Papua-Neuguinea wiederum war es bis in die 1950er-Jahre keine unübliche Praxis, das Fleisch von verstorbenen Stammesgenossen zu verzehren. Diese Form des Endokannibalismus wurde 1954 verboten. Kurze Zeit später entdeckte man auch medizinische Gründe, warum diese Praxis selbst tödlich ist: Die Kannibalen infizierten sich durch den "Leichenschmaus" mit Kuru, einer unheilbaren Prionenerkrankung, die durch infizierte und hochinfektiöse Gehirne übertragen wird und nach Ansteckung binnen eines Jahres auf eher grausame Weise zum Tod führt.

Schädelschalen
Zwei Schädelschalen aus dem sogenannten Magdalénien; eine stammt aus Gough's Cave in England, die andere aus der Courbet-Höhle in Frankreich. Die Inhalte dürften verspeist worden sein.
Trustees of the Natural History Museum London

Eine solche Form des sogenannten Endokannibalismus – wenn auch ohne Kuru – dürfte vor rund 15.000 Jahren auch in Europa gang und gäbe gewesen sein. Das behauptet jedenfalls das Archäologenduo William Marsh und Silvia Bello vom Londoner Natural History Museum (NHM) in einer neuen Studie, die im Fachblatt "Quaternary Science Reviews" erschienen ist. Damals besiedelten Menschengruppen aus dem sogenannten Magdalénien, einer archäologischen Kulturstufe des Jungpaläolithikums, den Nordwesten Europas.

Schnitt-, Bruch- und Kauspuren

Im Mittelpunkt der neuen Studie steht Gough's Cave in der Cheddar Gorge, eine berühmte paläolithische Fundstätte in England, die für ihre menschlichen Schädelschalen bekannt ist. An über 100 menschlichen Knochen, die aus der Höhle geborgen wurden, sind Schnitt-, Bruch- und Kauspuren zu sehen. Um die Funde in Gough's Cave besser einordnen zu können, "haben wir alle archäologischen Stätten untersucht, die der Magdalénien-Kultur zugeschrieben werden", sagt William Marsh, Co-Autor der Studie.

Kannibalismus Knochen
Die rund 15.000 Jahre alten Knochen aus der englischen Cheddar Gorge weisen zahlreiche Spuren auf, die darauf schließen lassen, dass die Leichen verspeist wurden.
Trustees of the Natural History Museum London

Das Magdalénien ist eine archäologische Kulturstufe des Jungpaläolithikums, und allem Anschein nach war damals das Verspeisen von Leichen zumindest im Nordwesten Europas gängige Praxis. Die Forschenden gehen in ihrem Artikel jedenfalls davon aus, dass sie nun genügend Beweise dafür haben, dass Kannibalismus eine übliche Bestattungspraxis bei den magdalénischen Gruppen in ganz Nordwesteuropa war und "nicht einfach nur aus der Not heraus praktiziert wurde", sagt Silvia Bello.

Neue Kultur, neue Bestattungspraxis

Die Gruppen, die in Nordwesteuropa kannibalische Bestattungspraktiken ausübten, waren auch genetisch untereinander verwandt. Später wurden sie von Individuen aus sogenannten epigravettischen Gruppen verdrängt, die Bestattungen nach der Standardbegräbnispraxis durchführten. Das war nach Ansicht des Forscherduos der Grund für das Aussterben der kannibalistischen Bestattungspraxis. In den Worten von William Marsh: "Während der Endphase des Paläolithikums ist tatsächlich ein Wechsel sowohl in der genetischen Abstammung als auch im Bestattungsverhalten zu beobachten, was auf eine Verdrängung der Bevölkerung hinweist, als epigravettische Gruppen nach Norden wanderten." (Klaus Taschwer, 7.10.2023)