Mrs. Gamp. Illustriert von Harry Furniss
Eine überliterarisch bekannte Schirmträgerin: Charles Dickens’ Mrs Gamp, von Harry Furniss illustriert.
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In Dickens’ Roman The Life and Adventures of Martin Chuzzlewit (1844; Leben und Abenteuer des Martin Chuzzlewit) heißt es über Mrs Gamp als buchstäblich ins Auge stechendes Charakteristikum, sie verbreite mit ihrem unkontrolliert herumflottierenden Schirm mit der Spitze aus Messing Angst und Schrecken unter den anderen Bahnreisenden. Sie wurde als Schirmträgerin so überliterarisch bekannt, dass "gamp" dann sowohl Krankenpflegerin wie auch Schirm bezeichnete, die beide ins bürgerliche Heim des 19. Jahrhunderts eingelassen wurden zum Schutz; wobei sie, wie von Dickens evoziert in Gestalt von Mrs Gamp, oft genug das Gegenteil bewirkten. Gamps "gamp" wurde von Dickens mit den Worten beschrieben, er habe die Farbe eines vertrockneten Blatts und oben, an der Spitze, als Zufallsklecks einen himmelblauen runden Fleck – oder anders gesagt: eine Landschaft aus Schirmseide.

Verlegen und verlieren

Dies ist nur eine von mehr als 120 Stellen, an denen der Regenschirm in Dickens’ erzählender Prosa, in seinen Briefen oder journalistischen Artikeln sich aufklappend oder bedrohlich, weil aufspießend anmutend auftaucht. Nicht selten finden sich bei ihm Regenschirme in Passagen besonderen Glücks, leichter Absurdität oder spezieller Kraft, die zugleich erzählerische Wendepunkte sind. Tatsächlich gibt es unter seinen vielen umfangreichen Romanen nur einen, in dem kein Schirm auftaucht, A Tale of Two Cities (1859; Eine Geschichte zweier Städte).

Schirme dienen bei Dickens ansonsten regelmäßig dazu, sich zu verändern, zu mutieren zu Theateraufführungen der Präsenz und der Absenz. Letzteres vor allem dann, wenn sie verlegt werden oder verloren gehen. Sie erzeugen komische Effekte. Auch weil sie verglichen werden oder Assoziationen mit Vögeln und Kohlköpfen oder Blättern auslösen. Sie tauchen in Gerichtsgebäuden auf, im Unterhaus, in Gefängnissen und in Palästen, im Omnibus und im Schlafzimmer. Manchmal ist ein Schirm auch ein Ersatz für Lebendiges. Silas Wegg in Our Mutual Friend (1864–65; Unser gemeinsamer Freund) hat ein Holzbein und stützt sich auf einen Regenschirm, der so formlos ist wie ein zusammengedrückter Kopfsalat. Figuren, die Dickens mit ein- wie nachdringlichen Charakterzügen ausstattet – und daher auch mit bizarren Namen wie Elijah Pogram, Wackford Squeers oder Daniel Quilp –, treten allesamt mit dem unverzichtbaren Signum des Schirms auf. Und geben den mit ihnen versehenen Protagonisten ihre eigene Ambivalenz weiter. Denn ein Schirm kann nicht nur verloren gehen und vergessen werden – und fällt erst dann in seiner Nichtselbstverständlichkeit auf. Ein Schirm kann Dinge in sich aufbewahren. Die Innenseite von der Außenseite eines Schirms zu unterscheiden: ein müßiger, weil sinnbefreiter Glasperlenzeitvertreib. Sein Innen ist sein Außen, sein Außen sein Innen. Er kann verhüllen und sich solitär verbergen, und mit ihm kann man die Umgebung attackieren. Er ist stumm, und zugleich lässt sich mit ihm etwas mitteilen, da mit der Spitze in Sand oder andre Untergründe etwas eingeschrieben werden kann.

Alexander Kluy
Alexander Kluy (geb. 1966) lebt als Autor, Journalist und Herausgeber in München. Er schreibt regelmäßig u. a. für den STANDARD. In der Edition Atelier hat er zuletzt "Giraffen. Eine Kulturgeschichte" verfasst und den Roman "Jazz" von Felix Dörmann herausgegeben.
Filippo Cirri

Eigentum und Recht

Das Geschehen um Mr Augustus Minns, exceedingly clean, precise, and tidy; perhaps somewhat priggish (äußerst sauber, präzise und ordentlich, vielleicht etwas pedantisch), in Dickens’ allererstem, im Dezember 1833 gedruckten Prosastück A Dinner at Poplar Walk, welcher gewöhnlich einen braunen Rock trug, eine ansprechende Krawatte, makellos gewienerte Stiefel und stets einen mit brauner Seide bespannten Schirm mit einem Griff aus Elfenbein, wird erst durch den Verlust des Schirms ausgelöst. Minns verliert die Contenance, immer weitreichender, immer aggressiver, während der Schirm sich erzählerisch entfaltet und dabei numinos verschlossen bleibt.

Zusammenfassend ist zu sagen: Im Werk von Dickens dienen Schirme als Instrumente des Hin- und Verweises wie als Gerätschaft für einen Angriff. Als Schutzvehikel werden mit ihm kriminelle Bedrohungen abgewehrt wie jene, die sich durch soziale Klassenunterschiede ergeben; dann Ängste, die Sexualität und Geschlechtsunterschiede betreffend; und zuletzt werden mit ihm Fragenkomplexe der Identität, der Frage des Eigentums und des Rechts im Allgemeinen gestreift. Ein Dickens-Interpret vermeinte aus der jeweiligen Schäbigkeit des beschriebenen Umbrella den jeweiligen niederen sozialen Status detektieren zu können.

Alexander Kluy Der Regenschirm, Buchcover
Alexander Kluy, "Der Regenschirm. Eine Kulturgeschichte". € 25 / 128 Seiten. Edition Atelier, Wien 2023 Buchpräsentation: 14. November, 18.30 Uhr, Wien-Museum Musa
Atelier Verlag

Unverwechselbare Eigenschaft

Was heutige Leser hie und da als überflüssiger Schnörkel bei Beschreibungen anmutet, erkannte George Orwell als unverwechselbare Eigenschaft von Dickens’ Manier, das überflüssige Detail. Orwell zufolge sind diese Einzelheiten das, woran bei der Lektüre festzuhalten ist, so wie am Griff eines Schirms. Dabei wird der Regenschirm beim viktorianischen Erfolgsautor zum komischen Element, wenn er in gänzlich fremdem Kontext, auf unerwartetem Terrain auftaucht und so einen machtvollen Witz entfaltet, Macht, entmachtet durch Parodie, durch Scherz, durch Ironie.

Lange vor Freud diente bei Dickens der Regenschirm auch als phallisches Instrument, ob nun in Nicholas Nickleby, darin sich Henrietta Petowker im Theater bewundert (und halb belästigt, halb erregt) fühlt von einem most persevering umbrella in the upper boxes (sehr standhaften Regenschirm in den oberen Logen), oder in David Copperfield (1849/50), wo die von David angehimmelte Miss Mowcher ein so großer Schirm auferlegt ist, der derart überdimensioniert ist, [that it] would have been an inconvenient one for the Irish Giant (dass es für den Irischen Riesen unbequem gewesen wäre); und in Bleak House (1852) wird die affectionate lunacy (liebevolle Verrücktheit) von Mrs Bagnet überdeutlich, wenn sie Trooper George a great poke between the shoulders with her umbrella gibt, einen heftigen Stoß mit dem Schirm zwischen die Schultern. Schirme sind Objekte des Aufstiegs, gesellschaftlich wie ökonomisch, bei Dickens. Sie dienen aber auch dazu, vorzuführen, dass mancher Schirm nach oben weist, ohne dass selbiges auch dem Menschen widerfährt, der ihn hält. (...)
(Alexander Kluy, 6.10.2023)