Klüssendorf
Präzise und schonungslos: Angelika Klüssendorf.
Sarah Wolff

Es gibt Kindheiten, denen man nicht entrinnen kann, Verwünschungen von Müttern, die ein Leben lang nachwirken, Väter, die Gewalt und Alkoholexzesse mit fantastischen Geschichten überhöhen und eine Leerstelle bleiben. Geschichten aus dem Keller des Lebens, ihre eigenen sind es, die die Autorin Angelika Klüssendorf, Jahrgang 1958, aus ihrer DDR-Kindheit und -Jugend in prekären Verhältnissen in einer Trilogie erzählt. Für die ersten beiden Bände Das Mädchen (2011) und April (2014) war sie für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert worden, der dritte Band Jahre später (2018) über ihre turbulente Ehe mit dem FAZ -Herausgeber Frank Schirrmacher, der weitgehend als Schlüsselroman rezipiert worden war, kam nochmals auf die Longlist.

Ihr Tod als Ausrede

Nun hat sie mit Risse einen weiteren Band vorgelegt, der die Vorgeschichten zu ihrem Erfolgsroman Das Mädchen neu erzählt und schonungslos überprüft, "was nicht erzählt wurde und warum". Es ist auch ein Buch über die Erinnerung, sie mutet ihren Figuren und uns eine Suche nach dem Abgrund in uns selbst zu, präzise und schonungslos. "Es gibt Leerstellen, die ich bis heute nicht zu betreten wage." Wieder und wieder hat sie versucht, diese Mutter, Kellnerin in der Mitropa, die sie vernachlässigt, schikaniert und zum Klauen schickt und die nicht davor zurückschreckt, mit dem ersten Freund der Tochter zu schlafen, sterben zu lassen, jahrzehntelang hat sie ihren Tod als Ausrede benutzt, "als würde ich ihr etwas heimzahlen". Aber immer wieder hat sie auch die Verzweiflung und die ganze Einsamkeit dieser Mutter gespürt, "die Gier nach Leben, einem anderen Leben, von dem die Mutter selbst nicht wusste, wie es aussehen sollte". Eine Mutter, "die Freude am Quälen hatte, die ihre täglichen Erfolge an meiner Verzweiflung maß".

Der alkoholkranke Vater, der "schöne Egon", ein Aushilfskellner, aber auch ein genialer Hochstapler und Heiratsschwindler, ein Vergewaltiger, der oft wie im Koma auf dem Boden lag, "unfähig, sich vor der Mittagszeit zu rühren", terrorisiert Frau und Kind, bis er ganz verschwindet. Auf einem Foto sieht er aus wie der junge Pier Paolo Pasolini, und sie ist stolz auf sein gutes Aussehen. Das Mädchen lässt irgendwann ein Foto von sich in einem Atelier aufnehmen, um einen Beweis für seine Identität zu haben: "Es ist ein Beweisfoto, dass es mich gibt und mir ein schönes Kleid zusteht, obwohl ich ebenso die Vorahnung erkenne: Diesem scheinbar verlässlichen Augenblick nicht zu trauen ..." , denn in Wirklichkeit ist die "Scham über die Armut" ihre "eigentliche Kleidung", der Geruch der Armut scheint an ihr zu haften, die nie satt wird, wie viel sie auch in sich hineinschlingt. Sie bleibt klapperdürr, mit langen dünnen Beinen, großen Füßen und raspelkurzem Haar wird sie von allen für einen Jungen gehalten, was auch eine Art Schutzfunktion ist.

Was ihr hilft, ist das Ausreißen, das ihr tief in den Knochen steckt. So kann sie den Ort des Schreckens verlassen, muss sich nicht ausliefern, kein Opfer werden. "Schreiben wird ihr zum einzig verlässlichen Raum", denn "in all der Ausweglosigkeit gab es immer eine Sehnsucht", die sie die brutalen Schläge der Mutter, die inszenierten Suizidversuche des Vaters, gerne unter Einbeziehung der Tochter, vergessen ließ.

Buchcover
Angelika Klüssendorf, "Risse". € 22,70 / 176 Seiten. Piper, München 2023
Piper Verlag

Sprachverlust

Die Autorin, die ihre traumatische Kindheit und ihre Jugend ohne Jungsein in der DDR verbrachte, die mit Grenzverletzungen und Selbstzerstörung gegen ihre ausweglose Situation rebellierte, bis ihr 1985 die Ausreise erlaubt wurde, ist eine deutsch-deutsche Grenzgängerin mit ernüchtertem Blick auf beide Systeme. Ein Leben voller Brüche, Verluste, Orientierungslosigkeit bis hin zur Selbstaufgabe. Die Kindheitsmuster, die lieblos-tyrannische Mutter, die Jahre im DDR-Kinderheim unter dem "unheilbaren Lächeln" des Staatsratsvorsitzenden sind prägend, trotz der Literatur als einzigen Fluchtpunkts stellt sich kein Selbstwertgefühl ein. Sie ist immer noch so mager, dass sie stets eine Jogginghose unter ihrer Kleidung trägt, um nicht aufzufallen, die Übersiedelung in den Westen führt zunächst zu Sprachverlust, da sie die Codes nicht kennt.

Die Eltern sind inzwischen beide tot, Zeit also, den Rissen nachzuspüren, die sie im Ich der Erzählerin hinterlassen haben. "Längst der Kindheit entwachsen, werden wir noch reflexhaft die Hände heben, um vermeintliche Schläge abzuwehren." Und doch ist es ihr durch ihr Schreiben gelungen, "dem Kind, das ich war", Türen zu öffnen.

In ihren autofiktionalen Romanen leistet die Autorin das, was die Grande Dame dieser Gattung, Annie Ernaux, schon seit den 70er-Jahren leistet: die Verbindung der eigenen Geschichte mit der allgemeinen. Insofern ist Angelika Klüssendorf eine Autorin, die es neu zu entdecken gilt, weil sie mit unglaublicher sprachlicher Präzision und ohne jede Larmoyanz über Abgründe und Verstörungen zu berichten weiß. Ähnliches kannte man bisher nur von Kafka, wenn auch verschlüsselter. Der hat die Literatur als die "Axt für das gefrorene Meer in uns" bezeichnet. (Barbara Machui, 6.10.2023)