Jürgen Pettinger
Manfred Weis

Es war nur ein flüchtiger, zufälliger Blick, ein kurzer Moment", schreibt Jürgen Pettinger im Buch Dorothea – doch er rettete Lilli Wolff das Leben. Nebeneinander auf dem Boden kniend hatten sie und ihre Freundin Dorothea Neff einen Rucksack gepackt. Mit warmer Kleidung, haltbaren Lebensmitteln, einem Petroleumkocher, Medikamenten und Verbandsmaterial.

Mit allem, was man mit 20 Kilo Gepäck an Nützlichem mitnehmen konnte, wenn man als Jüdin im Jahr 1941 den Deportationsbefehl in den Osten bekommen hatte.

Aufbegehren gegen das Regime

In diesem Moment sei die damals 38-jährige Schauspielerin, die später zu einer Grande Dame der Wiener Theaterwelt werden sollte, "von der Ungeheuerlichkeit dieser unwirklichen Situation überwältigt worden. Diese Hilflosigkeit, diese Ohnmacht gegenüber der Brutalität des Regimes", schildert der Journalist, ORF-Nachrichtenmoderator und Autor die verzweifelte Situation: "‚Das kann nicht sein! Das darf nicht sein!‘, schrie eine Stimme in ihrem Kopf."

Und so kam es auch nicht. Das innere Aufbegehren ging in tollkühne Grenzüberschreitung auf. "Du gehst nirgendwohin. Du tauchst bei mir unter!", sagte Neff zu Lilli Wolff.

Vier Jahre lang, bis zur Befreiung 1945, sollte sie ihre Partnerin in der Wohnung verstecken – eine Zeit des Muts und gleichzeitig der Qual. Um verräterische Gehgeräusche zu vermeiden, musste Wolff ihre Tage auf einem Sofa in einem Zimmer verbringen, das auf die Mauer der Wiener St.-Anna-Kirche hinausgeht. Es kann durch das Fenster von außen nicht eingesehen werden. Pettinger hat das selbst überprüft. Haus und Wohnung gibt es nach wie vor.

Bittere Not

Auch hatte der widerständige Entschluss für die beiden Frauen bittere Not zur Folge. Zum Essen hatten sie anfangs nur, was durch Neffs Lebensmittelmarken und ein wenig Schleichhandel zu bekommen war. Um mit dem Immer-magerer-Werden nicht aufzufallen, schmuggelte Neff ihre Kostüme aus dem Deutschen Volkstheater, wie das Wiener Volkstheater damals hieß, an der Garderobiere vorbei nach Hause. Dort nähte Wolff, von Beruf Modedesignerin und Schneiderin, sie enger.

Hier und in weiteren Szenen gelingt es Pettinger, die Selbstzensur und Beklemmung spürbar zu machen, die ein Leben unter einem doppelten Damoklesschwert in der Hitlerzeit mit sich brachte: Eine Jüdin zu verstecken wurde mit Konzentrationalagereinweisung oder Tod durch den Strang beider Beteiligter bestraft, Homosexualität ebenso.

Kaminschacht in der Wand

Also lud Neff, um Normalität zu demonstrieren, regelmäßig Menschen von außerhalb zum Essen ein. An einem Abend kamen die junge Schauspielerkollegin Judith Holzmeister sowie der später in Österreich bekannte Psychiater Erwin Ringel, damals Student der Medizin, zu Besuch. Er wohnte im selben Haus und sollte in der Folge zu einer eingeweihten Vertrauensperson der Frauen werden.

Vom unsichtbaren Gast, der einen Polster knetete, um ihn sich im Fall einer Niesattacke vors Gesicht zu pressen, wussten die beiden nichts. "Im Kaminschacht in der Wand, hinter einem großen, prachtvollen Kachelofen, hielt sich Dorotheas Freundin Lilli Wolff verborgen und hörte jedes Wort mit", schreibt Pettinger.

Dieses und andere Details stammen aus einer Audioaufnahme Dorothea Neffs im Jahr 1981. Darin habe die damals 78-Jährige recht offen über ihr Leben reflektiert, sagt Pettinger. Überhaupt sei sie in späten Jahren öffentlich mit ihrer damaligen Partnerin Eva Zilcher aufgetreten. Sogar im Fernsehen.

Buchhcover
Jürgen Pettinger, "Dorothea: Queere Heldin unterm Hakenkreuz". € 24,– / 192 Seiten. Verlag Kremayr & Scheriau, Wien 2023
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Bitteres Schweigen

Offiziell machte sie ihre Beziehung aber nicht. Daran hinderte sie wohl nicht nur ihre Erfahrung jahrzehntelangen Verschweigenmüssens – das strafrechtliche Verbot von Homosexualität, das in Österreich im Unterschied etwa zu Deutschland auch lesbische Beziehungen umfasste, fiel erst 1971. Sondern wohl auch das bis weit in die 1990er-Jahre herrschende gesamtgesellschaftliche Schweigen über Homosexualität. Für Frauen, die Frauen lieben, ist es bis heute nicht vorbei. Das nach wie vor herrschende männerzentrierte Denken führt dazu, dass lesbische Beziehungen vielfach geringgeschätzt oder als nebensächlich abgetan werden.

Das Buch Dorothea hat einen Vorgängerband. In Franz – schwul unterm Hakenkreuz schilderte Pettinger das Schicksal eines homosexuellen Mannes in der NS-Justiz. Auch mit seinem neuen Werk will er dazu beitragen, die queeren Vorfahren von Lesben, Schwulen und anderen LGBTIQ-Personen in Österreich vor den Vorhang zu holen. Weitere Bücher hat er bereits in Planung.

Es sei beschämend, dass es hierzulande nach wie vor so wenig Literarisches aus der LGBTIQ-Geschichte gebe, sagt Pettinger. Das bestätigt im Vorwort des Buches auch der Historiker und Leiter des Forschungszentrums QWien, Andreas Brunner. In früheren Biografien Dorothea Neffs etwa sei das Private immer außen vor gelassen worden, schreibt er: "Nie wird von Liebe gesprochen, nie von Begehren." (Irene Brickner, 8.10.2023)