Raketen über Gaza.
Raketenangriffe aus dem Gazastreifen.
IMAGO/Rizek Abdeljawad

Die Journalistin Christine Kensche hat die dramatischen Stunden des überraschenden Hamas-Großangriffs auf Israel in Tel Aviv erlebt und ihre Eindrücke in dem folgenden Text für uns festgehalten:

In meinen Schlaf drängen sich Sirenen. Ein Motorrad fährt durch meine Traumszene – Moment, ist das nicht ein israelischer Sound? Und ich bin wach. Der Lärm dringt durchs Mark, und ich kenne ihn nur zu gut. Für einen Sekundenbruchteil klingt es wie ein schnell anfahrendes Motorrad, dann ist klar: Raketenalarm. Einige Sekunden später Explosionen am Himmel. Vögel flattern auf über meinem Dach in Yafo, dem arabischen Süden von Tel Aviv. Blick aufs Handy: Es ist 6.30 Uhr.

Auf israelischen Nachrichtenseiten ist der Raketenangriff noch nicht angekommen. In sozialen Netzwerken werden dutzende Angriffe vor allem auf den Süden Israels erwähnt. Die Raketenalarm-App, die hier in Israel jeder auf dem Handy hat, schickt zig Meldungen aus Gemeinden nahe dem Gazastreifen auf meinen Bildschirm. Noch ein Alarm. In der Theorie bleiben zwischen Alarm und Angriff 90 Sekunden, um in einen Luftschutzraum zu rennen. Ich bleibe im Bett und vertraue auf Israels berühmte Luftabwehr Iron Dome.

Raketenangriffe sind Alltag

Das mag für den österreichischen Leser jetzt naiv klingen, unglaublich vielleicht. Aber das ist hier, in dem Land, aus dem ich seit zwölf Jahren berichte und in dem ich seit knapp vier Jahren durchgängig lebe, Alltag. Die Hamas und der Islamische Jhihad feuern regelmäßig Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel, vor allem auf den nahen Süden. Das macht im Ausland keine Schlagzeilen mehr.

Dass die Raketen die Metropolregion Tel Aviv erreichen, kommt seltener vor, interessiert in Österreich erfahrungsgemäß aber auch keinen mehr so richtig. Ich wache und horche, ob noch mehr Raketen hier aufs Zentrum kommen. Vorerst nicht. Ich lege mich wieder hin. Es ist Sabbat, dazu Feiertag, und ich bin am Vorabend spät ins Bett gekommen. Wie gesagt, Raketenangriffe sind hier ein Stück weit Alltag. Ähnlich machen es meine Freunde.

Drei Stunden später wache ich in einer anderen Wirklichkeit auf. Wieder Raketenalarm, aber, und das ist das eigentlich Unglaubliche, der totale Schock: Es sind nicht mehr "nur" Raketen. Bewaffnete Terroristen fahren auf offenen Pick-up-Trucks durch südisraelische Städte, feuern um sich, töten, nehmen Geiseln. Auf dem Land, über See und mit Gleitschirmen aus der Luft sind sie eingedrungen, sagt ein Armeesprecher in einer eilig einberufenen Telefonkonferenz. Aus dem mit Mauern, Zäunen, Sensoren, Checkpoints gesicherten Gazastreifen, der als absolut abgeriegelt galt. Für eine Sekunde überlege ich, ob ich vielleicht noch träume. Das hat es so noch nie gegeben.

Fehleinschätzungen

"Wie konnte Israels Armee von diesem Angriff dermaßen überrascht werden?", fragt ein Kollege dem Armeesprecher. "Gute Frage, nächste!" Der sonst so akkurate und schnell informierte Sprecher kann weder die Zahl der Geiseln und Toten noch die der eingedrungenen Angreifer nennen. Ein israelischer Kollege spricht von dem "schlimmsten Debakel seit Yom Kippur 1973". Damals, am 6. Oktober, griffen Ägypten und Syrien Israel aus dem Süden und dem Norden an. Die Armee war völlig unvorbereitet und verzeichnete hohe Verluste. In den ersten Tagen sah es so aus, als könne dieser Angriff das Ende Israels bedeuten.

Junge Palästinenser und ein zerstörter israelischer Panzer.
Junge Palästinenser und ein zerstörter israelischer Panzer.
AP/Yousef Masoud

An diesem Morgen, fast auf den Tag genau 50 Jahre später, kommt eine ähnliche Endzeitstimmung auf. Meine Freundin sorgt sich um ihre Eltern im Moshav Zohar, nahe der Grenze zum Gazastreifen. Ihr alter Vater patrouilliere mit dem Gewehr um ihre kleine landwirtschaftliche Siedlung. Von Zohar aus kann man die Raketen über der Grenze sehen. Ihre bettlägerige Mutter hat sich ins Treppenhaus geschleppt. Jeder Israeli weiß, dass dies der sicherste Ort ist, wenn man es nicht in den nächsten Luftschutzraum schafft. Im Süden Israels gibt es nicht genug Bunker, die Gemeinden beschweren sich ständig darüber.

Gerüchteküche brodelt

Aus südlichen Metropolen aber auch im Zentrum, in Rehovot nahe Tel Aviv, steigen Rauchwolken auf. Der Iron Dome ist offenbar überlastet von den jetzt schon mehr als 2.000 Angriffen. Gebäude wurden direkt getroffen. Es gibt Tote und etliche Verletze. Wie viele, weiß keiner genau. Es herrscht Chaos. Eilig werden tausend Reservisten in den Süden beordert, Sperrzonen eingerichtet. In zwei Militärbasen liefern sich israelische Soldaten Feuergefechte mit den Angreifern. Gerüchte kommen auf.

Die Leiche eines getöteten israelischen Soldaten sei in den Gazastreifen verschleppt worden. Auch ein Lebender, heißt es an anderer Stelle in sozialen Medien. Ein Terrorist habe ihn auf einem Motorrad Richtung Gaza entführt. 35 israelische Geiseln hätten die Hamas-Kämpfer genommen, lautet ein anderes Gerücht. Der Armeesprecher kann das nicht bestätigen. "Ich habe nicht mehr Informationen."

Gegenangriffe auf den Gazastreifen

Wenn das stimmt, denke ich, dann ist das das Ende. Gilad Shalit, der israelische Soldat, der 2006 von der Hamas auf israelischem Boden entführt wurde, war fünf Jahre im Gazastreifen gefangen, bis ihn die israelische Regierung gegen 1.027 inhaftierte Terroristen tauschte. 1.027 für einen. Wie viele für 35 oder gar noch mehr? Wie viele Opfer wird dieser Angriff nach sich ziehen?

Schon jetzt ist klar, es werden viele sein. Israels Luftwaffe fliegt bereits Gegenangriffe auf den Gazastreifen. Für viel geringere Anlässe wurden Bodenoffensiven befohlen. Mit hunderten, tausenden Toten auf beiden Seiten. Ich denke an meine Freunde im Gazastreifen und ihre Kinder, die einfach nur in Frieden und Freiheit leben wollen und von der Hamas unterjocht werden. An meine Freunde und ihre Familien in Israels Süden. Inzwischen hätten Soldaten das Dach ihrer Eltern bezogen, berichtet meine Freundin. Sie vermietet ein Apartment in der grenznahen Stadt Sderot, wo viele Studenten wohnen. Ron versucht, ihre Untermieter zu erreichen. Die flüstern am Telefon. Draußen vor ihrem Haus seien Kämpfer mit Gewehren. Sie hätten die Wohnungstür verbarrikadiert und versuchten Ruhe zu bewahren.

Eine andere Bekannte aus dem Süden schreibt: "Das ist Wahnsinn. Sie drangen in das Viertel meiner Eltern in Kfar Aza ein, schrien 'Allahu akbar' und schossen in die Häuser. Es gibt Tote und Verletzte. Meine Eltern, die einen Schutzraum haben, rannten schnell raus, um meine Tante aus ihrem nahe gelegenen Haus zu holen. Ihr Mann war joggen und ist noch irgendwo da draußen."

Im israelischen Fernsehen wird gerade eine Frau live befragt, als Terroristen versuchen, in ihr Haus einzubrechen. Während ich für das Live-TV-Programm der "Welt" von meiner Dachterrasse in Tel Aviv aus zugeschaltet bin, explodieren zwei Abfangraketen unmittelbar am Himmel über mir. Ich stelle die Raketenwarn-App auf lautlos.

Sie klingelt jetzt ununterbrochen. (Christine Kensche aus Tel Aviv, 7.10.2023)