Klassik
Cate Blanchett als besessen Dirigentin Lydia Tár in "Tár."
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Keine Frage, die klassische Musik hat schon ruhmreichere Zeiten in der Öffentlichkeit erlebt. Zeiten, in denen ein Wiener Unternehmer seine Kaffeehauskette noch nach einer Oper benannte (Aida); als TV-Quizfragen mit dem Wort "Adagio" im Satz noch nicht als unzumutbare Sphinx-Rätsel galten – und als autogrammfaule Klassikstars noch gut daran taten, auf der Straße Sonnenbrillen zu tragen. Zeiten, die vorbei sind.

Es ist nicht zu leugnen, dass die klassische Musik in der Gesellschaft an Boden verloren hat. Zwar bleibt die Wiener Staatsoper Auslastungskaiser der Bundestheater und wahren die Salzburger Festspiele ihre globale Strahlkraft, aber in den Schulen, im TV, im Wirtshaus, in der Politik: Wann geht es da um das honorige Genre?

Zu rabenschwarz?

Axel Brüggemann stemmt sich gegen diesen Verfall: Der wortreiche Klassik-Kommunikator ist Blogger, Moderator, Journalist, Filmer, Buchautor und Podcast-Macher und will der Kunstmusik mit seinem Buch Die Zwei-Klassik-Gesellschaft einen Weg aus der dornigen Gegenwart in eine rosigere Zukunft weisen: "Wie wir unsere Musikkultur retten", lautet der Untertitel.

Fragt sich allerdings, ob der deutsche Autor die Gegenwart nicht zu rabenschwarz zeichnet. Getrieben von einem Hang zu Polemik, Provokation und Pointen bildet er die Wirklichkeit nicht immer in allen verfügbaren Graustufen ab. Ein Beispiel: "In Großbritannien will die Regierung die Unterstützung für die English National Opera einstellen", heißt es im Kapitel über das heikle Thema Kulturfinanzen. Dass die Zuwendungen für die ENO sehr wohl langfristig weiterfließen dürften (nämlich wenn das Haus der Forderung nachkommt, eine zweite englische Stadt zu bespielen), bleibt unerwähnt. Brüggemann spitzt lieber zu, als einen äquidistanten Blickwinkel zu suchen.

Levine, Kuhn und andere

Opulent wird die Erinnerung an die MeToo-Skandale aufgefrischt: Die Fülle der Fälle – von James Levine über Gustav Kuhn bis zur fiktiven Filmfigur Lydia Tár – lässt die Klassikbranche wie ein Pandämonium des Machtmissbrauchs aussehen. Brüggemann erachtet die Missetaten als moralisch desaströs und als Gift für das Renommee der Klassik: Wer würde sich in ethisch sensibilisierten Zeiten noch für solche Theater begeistern?

Dies sei aber nur ein Grund, warum die Klassik heute eine "zur Nischenkultur geschrumpfte Weltreligion" sei. Ein Kernproblem: Ihre Bühnen strahlten nicht mehr in die Gesellschaft hinein, es fehle an Feuerköpfen vom Schlag eines Leonard Bernstein und an inhaltlicher Sprengkraft. Statt eine diverse, gegenwärtige Gesellschaft zu spiegeln, wie es dem Berliner Trickster Orchestra mit seiner Melting-Pot-Besetzung gelinge, komme zu oft ein immergleiches Repertoire zum Zug und bestätige die Beharrungskräfte ergrauter Stammgäste.

Konservative Gemüter

Diese Konservativen nennt der 51-Jährige die "sterbende Generation". Sie bildet die eine Hälfte seiner postulierten "Zwei-Klassik-Gesellschaft". Und ihr Gegenstück? Wer meint, dies müssten die Opernfans progressiven Geistes sein, irrt. Brüggemann stellt den konservativen Gemütern die Mitglieder der Letzten Generation gegenüber. Warum? Weil diese Gruppe den radikalen Wandel sucht und Inszenierungen jenseits der Theaterbühnen betreibt.

Das hat zwar eine gewisse Logik, der titelgebende Antagonismus befremdet beim Lesen aber doch immer wieder. Die Wortschöpfung "Zwei-Klassik-Gesellschaft" suggeriert schließlich, dass da zwei Gruppen ein reges Klassikinteresse besäßen – was sich von den Klimaklebern nicht behaupten lässt.

Wiedererstarken der Feuilletons

Dafür gipfelt das Buch in beherzten Vorschlägen. Der abschließende Forderungskatalog mahnt nicht nur mehr Bühnenabenteuer mit Gegenwartsnähe ein, er ersehnt das Wiedererstarken der Feuilletons im Verbund mit einem investigativen Journalismus, eine Abkehr von der liebesdienerischen Langeweile gegenwärtiger TV-Kulturbeiträge und ein selbstbewusstes Comeback des schulischen Musikunterrichts: Brüggemann wünscht der Klassik mehr Mut zur "klaren Kante".

Ob ein solcher Innovationsschub Durchschnittsmenschen in die Opernhäuser locken würde? Man mag Zweifel haben. Brüggemanns Stoßrichtung ist dennoch zu begrüßen: Reformbestrebungen stehen dem Klassikbetrieb besser zu Gesicht als eine Selbstinszenierung als Klangmuseum, die womöglich sein Ende besiegelt. (Christoph Irrgeher,9.10.2023)