Geschichte wird von Gewinnern geschrieben. Die US-Amerikaner Jimmy Wales und Larry Sanders hatten 2001 eine Vision, die das revolutionieren sollte. Wissen von allen für alle, möglich gemacht durch eine kollaborative Plattform. Die Idee ging auf, die Wikipedia gilt heute als Urgestein des Internets. Es gibt die Enzyklopädie inzwischen in über 300 Sprachversionen.

Die deutschsprachige Wikipedia ist die drittgrößte, geschlagen nur von jener in Englisch und Cebuano, einer auf den Philippinen gebräuchlichen Sprache. Aktiv arbeiten derzeit rund 6.000 Autoren und Autorinnen mit, etwa 500 davon leben in Österreich. Im Schnitt sieben Mal besuchte jeder Österreicher und jede Österreicherin die Seite allein im letzten Monat.

10.587 Arbeitstage hätte man zu tun, wenn man die Wikipedia bei durchschnittlicher Lesegeschwindigkeit einmal komplett durchlesen wollen würde. In durchschnittlichen Bänden der Enzyklopädie Brockhaus gemessen würde die deutschsprachige Ausgabe ausgedruckt rund 1.390 Bücher umfassen.

Aber was steht eigentlich in der Wikipedia? Welche Inhalte und Perspektiven auf die Welt sind repräsentiert? Und welche fehlen? Diese Fragen stellen sich gerade in einer Zeit, in der neue KI-Technologien auf der Datengrundlage digitaler Wissenssammlungen aufbauen.

Wenig Wissen zu Care-Themen

Die Inhalte der Wikipedia sind über die letzten zwei Jahrzehnten organisch gewachsen. Die Passion der Community-Mitglieder spielt dabei eine nicht unerhebliche Rolle. Das kann etwa dazu führen, dass die Kategorie "Fußballverein (Wien)" 15-mal so viele weiterführende Einträge hat wie die Kategorie "Hilfsorganisation (Österreich)". Oder dass der Artikel zur deutschen Mittelstadt Schweinfurt fast den Umfang des Artikels zu Österreich erreicht. Oder dass innerhalb der Kategorie "Geschichte" die Subkategorie "Tiere im Militär" zu mehr als 2.600 verknüpften Einträgen führt, während es nur einen expliziten Artikel zur Geschichte der Krankenpflege gibt.

Innerhalb der Kategorie Geschichte gibt es 2.631 Einträge zum Thema "Tiere im Militär", aber nur einen konkreten Artikel zur Geschichte der Krankenpflege. Die Größe der Kreise in der Grafik stellt die Menge der Artikeleinträge in ausgewählten Unterkategorien dar.

Wenn man den Autorinnen und Autoren bei der diesjährigen WikiCon in Linz zuhört, wenn sie über das Thema plurales Wissen diskutieren, wird das strukturelle Problem dahinter klar. Der Community fehlt es an Menschen, die sich Themen der Pflege oder der Pädagogik annehmen. Besonders problematisch wird es dort, wo politische Interessen hinter Inhalten stecken. Offensichtlich wurde das etwa 2021, als sich herausstellte, dass die häufige Bearbeitung von Artikeln über deutsche Politiker und Politikerinnen auf einzelne, eine klare Agenda verfolgende Autoren zurückgeführt werden konnte.

Immer noch fehlen Frauen

Sichtbar werden diese Schieflagen auch oft dann, wenn ein Aufschrei wegen einer weiteren fehlenden Biografie einer Frauenrechtlerin durch die Medien geht. Und auch in den Inhalten macht sich der Gender-Gap deutlich bemerkbar. 18 Prozent der rund 900.000 Artikel über Personen behandeln Frauen. Bei nur 0,01 Prozent der Biografien handelt es sich um nichtbinäre Personen. Über die letzten zehn Jahre hat sich das Geschlechterverhältnis kaum angeglichen.

Blickt man auf die Biografien von Menschen, die sich konkreten Berufsgruppen zuordnen lassen, so liegt der Frauenanteil durchgängig weit unter 50 Prozent. Die Ausnahmen sind selten und klischeehaft: Eine weibliche Mehrheit gibt es bei Pornodarstellerinnen, Models oder Eiskunstläuferinnen.

Verzerrungen in Geschlechterfragen setzen sich auch in der Bebilderung fort, beispielsweise bei den Lemmata Jonglieren oder Fahrrad. Zunächst ist dort ein Herrenfahrrad zu sehen, dann ein Gemälde zweier Männer auf einem Tandem, ein Renn- und ein Liegerad sowie schließlich vier nackte Männern im Fokus einer Aufnahme vom Naked Bike Ride Saragossa 2009. Geht es etwa um Strumpfhosen, verirren sich gerne fetischisierende Darstellungen auf die Plattform.

Wie es Wikipedia-Autorin Kaethe17 zugespitzt ausdrückt, heiraten Frauen nicht, Frauen werden verheiratet, und überhaupt geht es bei ihnen oft um ihre Männer. "Das sind Schreibgewohnheiten, die in uns allen drinstecken", sagt Kaethe17, die auch Teil der Vereinigung FemNetz ist. Das Netzwerk arbeitet seit 2019 an der Sichtbarmachung aller Geschlechtsidentitäten.

Herrenräder und Herren auf Rädern – der Gender-Bias zeigt sich auch in der Bebilderung von Inhalten ("Ramon Casas i Pere Romeu en un tàndem", Gemälde von Ramon Casas i Carbó von 1897).
© Ralf Roletschek

Wissenslücke Afrika

Der Anteil Europas und Nordamerikas an der Weltbevölkerung beträgt nicht einmal 15 Prozent. Trotzdem behandelt ein überwiegender Teil der deutschsprachigen Wikipedia diese Weltregionen. Der gesamte afrikanische Kontinent und der Nahe Osten werden in 29.571 Artikeln erörtert, Frankreich alleine in 58.730 und damit in doppelt so vielen.

In den anderen Sprachversionen ergibt sich ein ähnliches Muster. Das zeigt auch die Artikelverteilung nach Weltregionen über alle Sprachen der Wikipedia hinweg.

Frei von Hierarchien? Fehlanzeige

Die Community bestimmt, welches Wissen relevant genug für die Wikipedia ist, welche Formulierung neutral und welche Version der Geschichte wahr. Diese Entscheidungen werden kollaborativ verhandelt unter dem Motto "anyone can edit". Die Realität zeigt allerdings, dass nur sehr wenige sehr viel in der Wikipedia gestalten. So waren im letzten Monat die aktivsten 100 Mitglieder für fast 40 Prozent der Bearbeitungen verantwortlich.

Dazu kommt, dass diese wenigen in der Mehrzahl einem äußerst homogenen Profil entsprechen: weiß, männlich, über 50, und mit ausreichend Freizeit und Wissen ausgestattet. Der Anteil der Autorinnen liegt je nach Umfrage nur zwischen zehn und fünfzehn Prozent. Auch sind die Hierarchien innerhalb der Community teilweise recht starr, was die Voraussetzungen für neue Mitglieder erschwert. "Je mehr gute Edits du hast, desto mehr Respekt genießt du in der Community. Das ist historisch gewachsen", erklärt Wikipedia-Autorin Kaethe17.

Oft würden sich neue Autoren und Autorinnen frustriert abwenden, weil sie im Forum für Fehler angegangen werden oder Beiträge kommentarlos gelöscht werden. Das gilt als Mitgrund, warum die deutschsprachige Wikipedia mit dem Problem fehlenden Nachwuchses kämpft. Bisher ohne Erfolg, denn bereits seit 2007 geht die Anzahl der Autorinnen und Autoren stetig zurück. (Pauline Reitzer, 25.10.2023)