Reisende beobachten am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv die Abflüge aus Israel.
Reisende beobachten am Flughafen Ben Gurion in Tel Aviv die Abflüge aus Israel.
IMAGO/DEBBIE HILL

Als die Sirenen Moritz Lingfeld am Samstag weckten, wusste er sofort, dass etwas Außergewöhnliches im Gange sein muss. "Raketenalarm in Jerusalem ist selten und ganz besonders, dass er so lange anhält", erzählt der Österreicher. Seit knapp einem Jahr lebt er in Israel, mit einem Stipendium forscht er an der Hebräischen Universität – ausgerechnet zu terroristischen Straftaten.

Weil sich Lingfeld mit dem Terror der Hamas intensiv beschäftigt hatte, hat er geahnt, dass die Situation bald eskalieren könnte. "Die Stimmung war in letzter Zeit extrem angespannt", sagt der 31-Jährige im Gespräch mit dem STANDARD. Nun unmittelbar selbst von seinem Forschungsgegenstand betroffen zu sein, sei aufwühlend gewesen. "Ich war erschrocken, auch wenn man etwas abstumpft, wenn man in Israel ständig mit Gewalt konfrontiert wird." Im Bunker sitzend lief Lingfelds Telefon heiß. "Für Angehörige ist die Situation noch viel schlimmer, alle erkundigen sich, ob es einem gutgeht."

Schnell habe er sich dann auch überlegt, zurück nach Österreich zu reisen. Gelungen ist das aber noch nicht – Flugtickets von Israel nach Europa sind aktuell extrem rar. Am Wochenende haben unter anderem Austrian Airlines, Air France, Easyjet und Ryanair ihre Verbindungen gestrichen. Lingfeld geht deshalb davon aus, erst nächste Woche mit einem Linienflug in seine Heimat zurückkehren zu können.

"Die Fahrt zum Flughafen war absurd"

Mehr Glück hatte ein anderer Österreicher, der in Israel an einer medizinischen Fortbildung teilnehmen wollte. Über ein Reisebüro ergatterte er eines der letzten Tickets. "Die Fahrt zum Flughafen war absurd: Wir sind an Orten vorbeigefahren, in denen Raketen eingeschlagen hatten." Der Flughafen in Tel Aviv sei zwar sehr gut gesichert, unwohl habe er sich trotzdem gefühlt: "Normalerweise hat man in jedem Haus einen Bunker. Aber im Flugzeug sitzend auf dem Rollfeld fühlt man sich angreifbar."

Lingfeld steht das noch bevor – am Dienstag hat sich für ihn eine neue Option aufgetan: Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) kündigte die Evakuierung von Österreicherinnen und Österreichern an. Geplant ist, dass am Mittwoch die erste Maschine zum Einsatzort gebracht wird. Sie wird von Israel gen Zypern abheben, wo die Evakurierten dann eigenständig weitereisen sollen.

Nehammer in Ankara: Evakurierungsmission ab Mittwoch
Österreich unternehme nach der Attacke der islamistischen Hamas auf Israel alles, damit Staatsbürger, die das Land verlassen wollten, dies auch könnten, sagte Nehammer Dienstagfrüh bei einem Pressebriefing anlässlich seines Arbeitsbesuchs in der türkischen Hauptstadt Ankara.
APA/mhr

Damit reagiert die Regierung spät: Am Montagmorgen kehrten beispielsweise zwei Flugzeuge der ungarischen Luftwaffe nach Europa zurück, auch Polen, Rumänien und Albanien haben Bürgerinnen und Bürger ausgeflogen. "Es ist peinlich, dass Österreich erst jetzt reagiert", sagt Lingfeld. "Ich hätte mir das Angebot früher gewünscht, dann hätte ich mich auch sicherer gefühlt." Eine Kritik, die in ähnlicher Form auch andere Österreicherinnen und Österreicher in Israel im Gespräch mit dem STANDARD äußern.

SPÖ kritisiert langsame Reaktion

Kritik übt auch Petra Bayr, Außenpolitiksprecherin der SPÖ: "Der Außenminister hätte hier schneller reagieren müssen. Hunderte Österreicherinnen und Österreicher warten auf die Evakuierung. Dass möglicherweise drei österreichische Staatsbürgerinnen und -bürger entführt wurden, zeigt, wie dringend die Lage ist."

Aus dem Ministerium von Alexander Schallenberg (ÖVP) hieß es am Montag noch, es gebe nach wie vor reguläre Ausreisemöglichkeiten per Linienflug oder über die Grenze nach Jordanien. Am Dienstag begründet das Ministerium dann auf Anfrage die geänderte Evakuierungsentscheidung damit, dass "aufgrund der extrem angespannten und volatilen Sicherheitslage in Israel mittlerweile zahlreiche Fluglinien ihre Flüge nach Israel aus Sicherheitsgründen bis auf weiteres eingestellt haben" – was allerdings keine neue Entwicklung ist.

Das Außenministerium verweist außerdem darauf, dass vereinzelt österreichische Bürgerinnen und Bürger mit Evakuierungsflügen anderer Länder ausreisen konnten: "Wir stehen selbstverständlich im ständigen Austausch mit unseren EU-Partnern." Offenbar konnten diese Möglichkeiten nur wenige Menschen nutzen: Das Ministerium sprach zunächst von rund 200 ausreisewilligen Österreicherinnen und Österreichern in Israel. Dieselbe Zahl wird noch immer genannt – was darauf schließen lässt, dass zuletzt nur wenige mit anderen Evakuierungsflügen das Land verlassen haben.

Kooperation mit anderen Staaten üblich

Bürgerinnen und Bürger anderer Staaten mitzunehmen ist in solchen Lagen üblich: Im April kooperierten mehrere Länder, um Menschen aus dem in schwere Kämpfe verwickelten Sudan in Sicherheit zu bringen. Und als im August 2021 die Taliban im afghanischen Kabul einmarschierten, konnten österreichische Bürgerinnen und Bürger von der deutschen Evakuierungsmission ausgeflogen werden. An diesen Fall erinnert auch SPÖ-Abgeordnete Bayr und betont: "Natürlich hätte der Außenminister alles daran setzen müssen, gemeinsame Evakuierungen zu ermöglichen." Warum eine umfassende Kooperation diesmal nicht zustande gebracht wurde, sei unverständlich.

Österreich ist aber nicht das einzige Land, das zunächst zu Linienflügen geraten hat. Das deutsche Außenministerium riet auf seiner Website, sich über noch aktive Reiseanbieter und Fluggesellschaften selbst um die Ausreise zu kümmern. Am Dienstag kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz dann zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron Evakuierungsflüge an. Auch Spanien hat noch kein eigenes Flugzeug losgeschickt.

Gelobt wird die Kommunikation des österreichischen Außenministeriums vom Verein Gedenkdienst, der drei junge Menschen nach Israel entsandt hat. Obfrau Nadine Dimmel erzählt: "Unsere Gedenkdienstleistenden wurden alle von der Botschaft kontaktiert. Und wir haben sogar am Wochenende einen Rückruf bekommen, das ist nicht selbstverständlich."

Sie kritisiert dafür die Lageeinschätzung des Außenministeriums. Dieses spricht für Israel von einem "hohen Sicherheitsrisiko" – was Stufe vier von sechs entspricht. "Es wäre wichtig, eine Reisewarnung auszusprechen, also die fünfte Stufe auszurufen", sagt Dimmel. "Dann zahlt zum Beispiel die Reisrücktrittversicherung wegen der Gefahr im Reiseland." Beispielsweise während der Corona-Pandemie war das der Fall.

Warum wird die Risikoeinschätzung nicht geändert?

Die vierte Stufe kann nach Angaben des Außenministeriums bei gewalttätigen Auseinandersetzungen mit Todesopfern oder bei einem hohen Risiko von Terroranschlägen ausgerufen werden. Stufe fünf hingegen, wenn ein Land sich im Krieg befindet – was Israels Regierung am Wochenende offiziell erklärt hat.

Außenpolitikerin Bayr kann deshalb nicht nachvollziehen, warum Schallenbergs Ministerium die Risikoeinschätzung nicht angepasst hat: "Die massiven Entführungen, Folterungen und Ermordungen von Zivilistinnen und Zivilisten und auch die Entführung dreier österreichischer Staatsbürgerinnen und -bürger, die aktuell im Raum steht, sind Anzeichen genug, dass eine Erhöhung der Sicherheitsstufe angebracht wäre."

Das Außenministerium äußert sich auf STANDARD-Nachfrage nicht zu der Risikoeinschätzung. Auf der Internetseite heißt es nur allgemein, die Lagebewertung beruhe nicht auf einzelnen tragischen Ereignissen, sondern der Gesamtsituation. Außerdem spiele es eine wichtige Rolle, wie ein Staat mit der Terrorgefahr umgehe. (Sebastian Scheffel, 10.10.2023)