Nur wenige Stunden vor dem Start erfahren die Gäste des Supernova-Festivals die genaue Location der Rave-Party. "Die Veranstaltung wird an einem Ort stattfinden, der voller Kraft ist, ein natürlicher Ort mit vielen Bäumen, dessen Schönheit einen erstaunen lässt", wird das Festival angepriesen. Der Standort des Trance-Festivals ist schließlich in der israelischen Negev-Wüste, nahe dem Kibbuz Re'im und nur wenige Kilometer vom Gazastreifen entfernt. "Die Zeit ist gekommen, dass die ganze Familie wieder zusammenkommt", schreiben die Veranstalter kurz vor dem Beginn am Freitag um 22 Uhr. "Und was das für ein Spaß wird!"

Von der Hamas zerstörte Autos auf dem Festivalgelände in Israel
Von der Hamas zerstörte Autos auf dem Festivalgelände.
REUTERS/RONEN ZVULUN

An die 3.000, vielleicht sogar 4.000 Menschen besuchen den Open-Air-Rave mit seinen drei Bühnen und seiner Chill-out-Area, die Gäste kommen aus verschiedensten Ländern. Sie feiern, so das Motto, "Freundschaft, Liebe und unendliche Freiheit".

Achtung: Darstellung von Gewalt
Video: Hamas-Terroristen attackierten die Besucherinnen und Besucher eines Trance-Festivals und verschleppten zahlreiche von ihnen in den Gazastreifen.
AFP/DER STANDARD/mvu

Erste Explosionen

Samstagmorgen, als die meisten Gäste verständlicherweise schon Ermüdungserscheinungen zeigen, ist Raketenalarm zu hören, und auch erste Explosionen aus der Ferne. Einige, erzählen Augenzeugen danach, hören sie aufgrund der lauten Rave-Musik gar nicht. Andere bekommen zwar Warn-SMS aufgrund der Einschläge, doch denken sich nichts dabei. So nah am Gazastreifen sind Luftalarm und Raketeneinschläge trauriger Alltag.

Plötzlich aber stoppt die Musik. Eine Stimme verkündet: "Leute, wir haben roten Alarm. Roten Alarm." Dann geht es los. Die Terroristen der Hamas, sie haben quasi unbemerkt die Party erreicht, mit Autos, Motorrädern und Paragleitern. Augenzeugen sind sich im Nachhinein sicher: Die Angreifer wussten von dem Rave, die Attacke war detailliert geplant.

"Sie haben das Licht abgedreht, und aus dem Nichts waren sie da und haben in alle Richtungen gefeuert", sagt Festivalgast Ortel später dem israelischen TV-Sender Channel 12. Sie erzählt von rund 50 Angreifern in Militäroutfit, die in Pick-up-Trucks und Lastwagen ankommen.

"Die Angreifer waren überall"

Die Menschen flüchten in Panik, das belegen zahlreiche Videos in den sozialen Medien. Doch einerseits bietet die Wüste nur wenige Versteckmöglichkeiten, andererseits warten die Terroristen schon an den Notausgängen. Viele, die mit ihren Autos die Flucht versuchen, werden gerammt und dann auf den Straßen erschossen. Von Hinrichtungen ist danach die Rede. "Die Angreifer waren überall", wird die 27-jährige Millet Ben Haim später der "Washington Post" erzählen.

Festivalgäste flüchten vor den Angreifern.
Festivalgäste flüchten vor den Angreifern.
via REUTERS/VIDEO OBTAINED BY RE

Sie versucht ebenfalls, mit Freunden in einem Auto zu entkommen. Doch andere Fahrzeuge mit Leichen darauf blockieren alle Straßen. Dann sind die Angreifer auch bei ihnen: "Da waren sieben oder acht Terroristen, die auf unser Auto geschossen haben." Sie schaffen es ein paar hundert Meter, dann steigen sie aus und flüchten zu Fuß weiter. Sie laufen und laufen, stundenlang, bis sie einfach nicht mehr können.

"Wir haben versucht, die Polizei zu erreichen. Aber die hat uns gesagt, sie können nicht helfen, weil zu viele Menschen entführt wurden", erzählt Ben Haim. Irgendwann werden sie von einem Einwohner aufgesammelt. Er ist mit seinem Auto unterwegs, um den Geflüchteten zu helfen.

Auf dem Motorrad entführt

Viele andere haben nicht so viel Glück. Die Angreifer klappern jeden Baum und jeden Busch ab und schießen auf jeden, den sie entdecken. Gleichzeitig nehmen die Terroristen auch viele Geiseln. Darunter sind etwa Noa Argamani, eine 25-jährige Frau, und ihr Freund Avinatan Or. Später ist sie auf einem Video in palästinensischen sozialen Medien zu sehen, wie sie auf einem Motorrad weggebracht wird.

Oder die 22-jährige Deutsche Shani Louk, Tochter einer Deutschen und eines Israelis. In einem Video ist zu sehen, wie sie halbnackt auf einem Pick-up-Truck liegt, vermutlich im Gazastreifen. Ihr Gesicht liegt auf dem Boden, vermutlich ist sie bewusstlos. Mehrere Männer stehen um sie herum, ein junger Mann spuckt im Vorbeigehen auf Louk.

Insgesamt, erklärten die israelischen Behörden am Dienstag, wurden 100 bis 150 Menschen als Geiseln genommen. Auf dem Festival selbst sind laut Rettungsorganisationen etwa 260 Menschen getötet worden.

Tot oder entführt?

Was bleibt, sind Angehörige, von denen viele noch verzweifelte Anrufe oder Textnachrichten der nun Getöteten oder Entführten erhalten haben, bevor der Kontakt abgebrochen ist. Erst langsam klärt sich, ob ihre geliebten Menschen zur ersten oder zur zweiten Gruppe gehören.

Und ein israelischer Sicherheitsbeamter fragt gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters: "Wie konnte diese Party so nahe beim Gazastreifen stattfinden?" (Kim Son Hoang, 10.10.2023)