Péter Nádas
Péter Nádas: "Wenn die Demokratie nicht funktioniert, verdanken wir das nicht den Rassisten oder Faschisten, sondern uns selbst. Wenn Demokratie nicht stimmt, dann gibt es nicht genug Demokraten."
imago/gezett

Die Literaturkritikerin Iris Radisch hat ihn den "bedeutendsten lebenden Schriftsteller Osteuropas" genannt. Der 1942 in Ungarn als Sohn kommunistischer Eltern knapp dem Holocaust entkommene Péter Nádas war heuer Ehrengast des Festivals Literatur im Nebel, organisiert seit 16 Jahren im Waldviertel von Rudolf und Christine Scholten. Hunderte Zuhörerinnen und Zuhörer folgten über zwei Tage der Lesung aus dem massiven Werk – fast unerträglich die minutiöse, distanzierte Schilderung seines Beinahetodes, nostalgisch-ironisch die Schilderung eines Vorkriegs-Großbürgerhaushalts. Und zugleich eminent politisch.

STANDARD: Es scheint, dass der Antisemitismus eine neue Welle bildet – auch in Ungarn.

Nádas: Nein, es gibt in Ungarn keinen speziellen Antisemitismus. Antisemitismus ist ein Nebenzweig von Rassismus, und es gibt auch jüdischen Rassismus. Ich bin gegen alle Rassismen in der Welt. Ich bin an der Realität interessiert. Und die Realität ist mit Rassismus verbunden. Es gibt einen ungarischen Rassismus und einen österreichischen. In Deutschland ist er moderat, aber er kommt wieder zurück. Ich versuche, kein Rassist zu sein, das ist das Einzige, was ich anbieten kann. Aber ich ertappe mich selbst immer wieder bei einer Art Rassismus – wenn man sich für klüger hält als alle anderen, wenn man sich für moralischer hält als alle anderen, dann steht der Rassismus schon auf der Schwelle.

STANDARD: Sie haben einmal über den Hass in den sozialen Medien gesprochen. Verfolgen Sie die sozialen Medien?

Nádas: Nur am Rande. Ich will diese Hasstiraden nicht lesen, nicht weil ich Angst kriege, sondern es langweilt mich furchtbar. Diese einfachen Antworten, die man mit Hass geben kann, sind langweilig. Wenn etwas nicht differenziert, dann ist das falsch. Aber Twitter und Facebook – da dachte ich, ich will einen reichen Amerikaner nicht noch reicher machen. Und dabei bleibe ich. Das ist eine große Erfindung, aber für die Welt sind diese Hasstiraden eine Plage.

STANDARD: Sie wurden im Jahr 1942 geboren, in einer Zeit des größten Hasses. Verzweifeln Sie über dessen Wiederkehr?

Nádas: Verzweifelt zu sein und Verzweiflung dann auch noch zu verbreiten, das erlaube ich mir nicht. Traurig bin ich auch nicht, emotional darf mich das nicht richtig berühren. Denn wenn Demokratie nicht funktioniert, dann verdanken wir das nicht diesem negativen Rückfall, nicht Rassisten oder Faschisten, sondern den Demokraten – uns selbst. Wenn Demokratie nicht stimmt, dann gibt es nicht genug Demokraten. Das ist wiederum nicht traurig, sondern eine Begleiterscheinung der Demokratie. Demokratie ist allem Anschein nach nicht fähig, sich selbst zu verteidigen – und dann kommen die Gegner der Demokratie zurück. Sie spüren diese Schwäche und nutzen sie aus.

STANDARD: Sie halten es aber schon für möglich, dass die Verteidiger der Demokratie aufwachen und sich besinnen?

Nádas: Nein, leider nicht, weil die Geschichte lehrt, dass es ohne Katastrophe nicht geht. Wir wachen nicht auf. Immer wieder erstehen dieselben Arten von Katastrophen. In Europa und jetzt auch in den USA wird es ausprobiert, wie es ist, wenn die Demokratie in sich zusammenfällt und aufgelöst wird. In Europa machen wir das von Zeit zu Zeit immer wieder.

STANDARD: Die Katastrophe ist der Krieg Russlands?

Nádas: Ja, das ist schon da. Das verdanken wir Angela Merkel, die für Deutschland zehn, zwölf Jahre Wohlstand und Ruhe gesichert hat, obwohl sie wusste, mit wem sie es bei Putin zu tun hat. Putin ist ein Geheimdienstler, ein Teil dieser großen Republik der Geheimdienstler, die bis zur Zarenzeit zurückgeht.

STANDARD: Russland ist ein riesiger Geheimdienst?

Nádas: Ja, verbunden mit der organisierten Kriminalität.

STANDARD: Sie sind sehr pessimistisch.

Nádas: Nein, ich bin nicht pessimistisch. Pessimistisch oder optimistisch ist eine Form der Selbsttäuschung. Optimisten sind Schönredner, die etwas schönreden, was sie nicht schön finden – um die anderen nicht in Verzweiflung zu bringen oder um noch eine Ruhepause zu erzwingen. Die Pessimisten sehen ständig Katastrophen, ich würde sie sogar Katastrophisten nennen. Das sind interessante Menschen, die denken, wenn ich "Katastrophe" rufe, dann kommt keine. Ich bin Realist. Ich bleibe bei der Realität.

STANDARD: Sie machen einem Angst. Ihr Realismus ist schwarz gefärbt.

Nádas: Nein, nicht schwarz, nicht rot, nicht lila.

(Rudolf Scholten, der Mentor des Festivals Literatur im Nebel, erscheint, um Nádas abzuholen, und wirft ein: "Grau in grau".)

Nádas: Das ist eine wunderbare Farbe. (Hans Rauscher, 11.10.2023)