Mittlerweile gehen auch alle israelischen Medien davon aus: Der ägyptische Geheimdienst wusste nicht, wann es und was genau geschehen würde – aber er hatte Information darüber, dass die Hamas im Gazastreifen etwas plante. Wie Ägypten, namentlich Geheimdienstchef Abbas Kamel, daran scheiterte, Aufmerksamkeit dafür in Jerusalem zu erlangen, wird später wohl einmal eine Untersuchungskommission klären. Die volle Konzentration der Israelis – politisch und militärisch – habe dem Westjordanland gegolten, heißt es.

Der Präsident der Palästinenserbehörde, Mahmud Abbas und der ägyptische Geheimdienstchef Abbas Kamel
Der Präsident der Palästinenserbehörde, Mahmud Abbas (Mitte), und der ägyptische Geheimdienstchef Abbas Kamel (links). Kairo soll Jerusalem vor einer Hamas-Operation gewarnt haben.
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Sicher ist, dass das ägyptische Regime an dieser enormen Eskalation, die die ganze Region mit sich reißen könnte, kein Interesse hat. Jede Destabilisierung des Gazastreifens, der Ägypten eng verbunden ist – bis 1967 wurde er von dort verwaltet –, ist eine Gefahr. Israel kritisierte Kairo im Laufe der Jahrzehnte immer wieder dafür, dass die Grenze nicht genügend dicht gegen Waffenschmuggel nach Gaza sei. Aber die israelisch-ägyptische Zusammenarbeit der letzten Jahre ist gut – und Ägypten versucht, den Austausch zwischen der Hamas und deren verbotener Mutterorganisation, den ägyptischen Muslimbrüdern, einzudämmen. Ohne Ägypten geht es auch nicht, was diplomatische Kanäle zu und zwischen den Palästinensern anbelangt.

Dabei hat man genügend eigene Probleme. Ägypten steht finanziell das Wasser bis zum Hals. 39,7 Prozent Inflation, eine Währungsabwertung nach der anderen, ein Downgrading von Moody’s vor einer Woche und schlechte Noten aller anderen Ratingagenturen, eine Verdopplung der Staatsschulden in zehn Jahren: Als Präsident Abdelfattah al-Sisi vor kurzem vorgezogene Präsidentschaftswahlen vom 10. bis 12. Dezember verkündete, ging man davon aus, dass er sie hinter sich bringen wollte, bevor das Land am Nil wirtschaftlich noch weiter abstürzt.

"Wunsch des Volkes"

Sisi wurde 2014 mit 96 und 2018 mit 97 Prozent gewählt. Seine dritte Kandidatur argumentierte der fast 69-jährige Feldmarschall mit dem "Wunsch des Volkes". Es gab dazu organisierte Kundgebungen mit dem Slogan "Ja zur Stabilität". Das ist nun gültiger denn je.

Daran, dass er eine weitere Amtsperiode, verfassungsmäßig bis 2030, bekommt, ist nicht zu zweifeln. Es wird zwar Gegenkandidaten geben – einer davon, Sisi-Kritiker Ahmed al-Tantawy, berichtet aber von Behinderungen dabei, die 25.000 Unterschriften aus 15 ägyptischen Provinzen zu sammeln.

Als Sisi 2013 mit breiter Unterstützung der Zivilgesellschaft den erratischen Muslimbruderpräsidenten Mohammed Morsi stürzte, sehnten sich viele tatsächlich einfach nur nach Sicherheit und geordneten Verhältnissen nach chaotischen Revolutionsjahren. Schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen begegnete Sisi mit einer gigantomanischen Investitionspolitik, die zwar vordergründig Arbeitsplätze brachte, von der aber vor allem Sisis Herkunftsbiotop, die Armee, profitierte.

Dazu kamen Faktoren von außen, die er nicht beeinflussen konnte, wie die Covid-19-Pandemie seit 2020 und vor allem der Ukrainekrieg 2022, der die Lebensmittel, die auch der ärmste Mensch braucht, Mehl und Speiseöl, massiv verteuerte. Dass die Menschen ernüchtert sind und unter der Oberfläche viel Unmut schlummert, zeigte sich in Marsah Matruh an der Mittelmeerküste zwischen Alexandria und der libyschen Grenze, wo Demonstranten Sisi-Transparente herunterrissen. Offene Proteste sind aber sehr selten, Ägypten ist ein Polizeistaat.

Blut spenden und weniger essen

In seinen Reden begegnet Sisi den Nöten seiner Landsleute auf eine eigene Art: Da gibt es die Aufforderung an die Jungen, doch für Geld Blut spenden zu gehen; oder das Diktum, dass das Volk eher weniger essen und trinken sollte, als auf Fortschritt – gemeint sind die Großprojekte wie die neue Hauptstadt, ein Atomkraftwerk oder eine neue Stadt im Nildelta – zu verzichten. Die Erweiterung des Suez-Kanals, das plausibelste der Vorhaben, hat nicht die erwarteten Renditen gebracht.

Sisi vertraut offenbar darauf, dass Ägypten mit 113 Millionen Menschen "too big to fail" sei: ein Albtraum für Europa, das jetzt schon die schnell wachsende Zahl ägyptischer Migranten beobachtet. Frisches Geld kommt immer wieder von den Golfstaaten. Mit Saudi-Arabien, dem neuen Führer der arabischen Welt, verbindet Kairo, den einstmaligen Nabel der arabischen Politik, eine Art Hassliebe.

Auch vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bekommt Ägypten Kredite – tut sich jedoch schwer, dessen Bedingungen zu erfüllen, wie Transparenz bei der Vergabe von Aufträgen, die ja immer pünktlich bei der Armee landen. Wenn er das überhaupt wollte: Es ist nicht gesagt, dass Sisi sich leisten könnte, den Militärs Macht und Einfluss wegzunehmen. Indes kürzten die USA soeben einen Teil ihrer Militärhilfe. Der mutmaßliche Korruptionsfall des demokratischen Senators Bob Menendez, der sich für Lobbying von Kairo bestechen haben lassen soll, kommt nicht gut an. Aber vieles wird jetzt wohl in den Hintergrund treten. (Gudrun Harrer, 12.10.2023)