Gedenkveranstaltung gegen die Hamas Terroratacken in Israel, Gegendemo Palästinenser
Demonstranten auf dem Wiener Stephansplatz: Mohammeds Armee werde gegen Israel ziehen, riefen manche.
© Christian Fischer

Weder Bedauern über die Opfer noch eine Verurteilung des Terrors: Wie die ganze Welt blicke er mit Sorge auf die Nahostregion, schrieb Salah Abdel Shafi, um den Angriff auf Israel als "Resultat langjähriger Unterdrückung und siedlerkolonialer Besatzung" zur erklären. Die Morde der Hamas an Zivilisten kamen im verbreiteten Statement mit keinem Wort vor.

Abdel Shafi ist kein beliebiger Poster in den Weiten der sozialen Medien. Der studierte Ökonom amtiert in Wien als Botschafter der palästinensischen Autonomiebehörde, die zwar in Gebieten des Westjordanlands, aber nicht im von der Hamas dominierten Gazastreifen das Sagen hat. Als solcher kümmert er sich um eine Gemeinde, die in jüngerer Vergangenheit stark angewachsen sein dürfte.

Video: Pro-Palästina-Demo in Wien: "Warum zeigen die Medien nicht unsere Leute, die gestorben sind?"
DER STANDARD/Titze

Viele kennen Palästina nicht

Nur 653 Menschen mit Geburtsland Palästina zählt die Statistik Austria aktuell in Österreich, doch diese Zahl sagt wenig aus. Schließlich führte die arabische Niederlage im Krieg gegen Israel von 1948 dazu, dass hunderttausende Einwohner infolge von Flucht und Vertreibung in verschiedenen arabischen Ländern landeten. Viele, die sich als Palästinenser fühlen, sind also woanders aufgewachsen.

In den 70er-Jahren hätten die ersten Palästinenser nach Österreich gefunden, erzählt Abdel Shafi dem STANDARD, hauptsächlich Studenten, die Arzt oder Apotheker werden wollten. Wegen der tristen Lage in Gaza, vor allem aber wegen des Krieges in Syrien, wo ja viele Landsleute seit langem leben, habe sich die Zahl nach eigener Schätzung auf 20.000 bis 25.000 Menschen vervierfacht. Die Statistik zählt diese Flüchtlinge freilich als Syrer.

Obwohl viele davon Palästina gar nicht selbst kennen würden, gebe es eine emotionale Verbundenheit mit dem Schicksal des eigenen Volks, sagt Abdel Shafi: Manche gäben als Herkunft immer noch jene Orte in Israel an, aus denen ihre Ahnen 1948 vertrieben worden seien. Doch für die meisten habe Politik wohl keine Priorität: "Diese Menschen sind mit ihrem Alltag genug beschäftigt." Nur wenige engagierten sich in Organisationen.

Als Märtyrer nach Jerusalem

Einer dieser Vereine ist die Palästinensische Gemeinde Österreichs (PGÖ), die 500 bis 700 Mitglieder zählt. Man setzte sich für Integration ein, biete Unterricht an, betreibe Kulturarbeit, sagt Munther Merai, einer der Vertreter. Doch mit dabei war der Gastronom auch bei jener unangemeldeten Kundgebung am Mittwoch auf dem Stephansplatz, der ein Großaufgebot der Polizei ein Ende bereitete. Millionen würden als Märtyrer nach Jerusalem ziehen, drohten Demonstranten in Sprechchören und skandierten einen Slogan, der als Chiffre für die Auslöschung Israels gilt: "From the river to the sea – Palestine will be free."

Ob die PGÖ diese Ziele teile? Keineswegs, sagt Merai: "Wir wollen niemanden vernichten und sind gegen alles, was Mord und Brutalität mit sich bringt." Doch wütende Jugendliche, die um das Leben ihrer Familien fürchteten, würden manchmal eben nicht auf dem Boden des Angemessenen bleiben.

Wer redet über Unterdrückung?

Was aber auch ihn in Rage bringt, ist die – wie er meint – "Einseitigkeit" von Politik und Medien im Land: "Alle reden über den Angriff der Hamas, aber niemand sagt dazu, dass Israel die Palästinenser seit 75 Jahren unterdrückt." Unter den Tisch fielen Vergehen, wie sie etwa Amnesty International im jüngsten Jahresbericht anprangerte. Die Zahl der vom israelischen Militär ungesetzlich getöteten Palästinenser sei im Vorjahr gestiegen, Folter und Misshandlungen setzten sich fort, schreibt die Menschenrechtsorganisation. Israel etabliere ein System der Apartheid.

"Jeder Angriff auf Zivilisten ist zu verurteilen", sagt auf Nachfrage des STANDARD nun auch Botschafter Abdel Shafi: Wer Kriegsverbrechen begangen habe, solle zur Rechenschaft gezogen werden. Doch es tue ihm in der Seele weh, wenn die österreichische Regierung den palästinensischen Zivilopfern in Gaza nicht die gleiche Empathie wie den israelischen entgegenbringe: "Verantwortungsvolle Politiker müssen auf Israel einwirken, damit es zur Deeskalation kommt. Wer hingegen bedingungslose Solidarität versichert, macht sich zum Mittäter."

"Israel begeht tagtäglich Kriegsverbrechen"

Am Freitag war Abdel Shafi dann auch im Ö1-"Morgenjournal" zu Gast. Eine explizite Verurteilung der Terrorangriffe der Hamas kommt ihm auch da nicht über die Lippen. Das Statement von Palästinenserpräsident Mahmud Abbas, wonach dieser Angriffe auf Zivilisten "auf beiden Seiten" ablehne, verteidigt Abdel Shafi auf Nachfrage. Er finde dieses Statement "sehr angemessen", gemäß Völkerrecht lehne er jeden Angriff auf Zivilisten ab, egal von welcher Seite. Das gelte sowohl für die Hamas als auch für Israel. "Israel hat unsere Freiheit seit 56 Jahren beraubt und begeht tagtäglich Kriegsverbrechen."

Von der Terrororganisation Hamas will Abdel Shafi sich auch auf Nachfrage nicht explizit distanzieren. Aber: "Wer Kriegsverbrechen begeht, muss gemäß Völkerrecht zur Rechenschaft gezogen werden, seien es Palästinenser oder Israelis." Israel gehe gegen Zivilisten mit äußerster Brutalität vor. Es gebe Regeln für den Krieg, wie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Dieses sei "zuerst" von Israel gebrochen worden, das seit 56 Jahren eine Besatzungsmacht sei.

Der Nahostkonflikt könne nicht mit Gewalt gelöst werden, sagt der Palästinenservertreter. Es brauche eine politische Lösung. "Die sieht so aus, dass Israel seine Besatzung sofort beenden muss." Es brauche einen palästinensischen Staat, wo Palästinenserinnen und Palästinenser in Würde und Freiheit leben könnten, neben dem Staat Israel. "Das ist die Lösung." (Gerald John, tschi 13.10.2023)