Bärtiger, tätowierter Mann mit Kopfhörer auf Yogamatte
Wie gesund – oder ungesund – man ist, wird über den BMI eruiert. Der ist aber nur ein sehr unzulänglicher Wert, um den Gesamtzustand des Stoffwechsels zu beurteilen. Nun versucht man, neue Ansätze zu entwickeln.
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Geht es um die Einordnung des Körpergewichts, gibt es eine Einheit, die als der Goldstandard gilt: der Body-Mass-Index, kurz BMI. Berechnet wird er, indem man das Körpergewicht in Kilogramm durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat dividiert. Die sich daraus ergebende Zahl dient als Indikator für die Körperfettmenge und wird international seit vielen Jahrzehnten herangezogen, um eine Person als normalgewichtig, unter- oder übergewichtig oder sogar adipös einzustufen. Sie weist nämlich, so die Annahme, auf ein umso höheres Risiko für Stoffwechselerkrankungen hin, je höher sie ist.

Und dieses Wissen hat sich in den Köpfen der Menschen eingegraben. Wenn der BMI ein normales Gewicht anzeigt, dann ist alles gut, auch gesundheitlich. Es gibt keinen Handlungsbedarf, so die fixe Idee. Das erleben auch viele Ärztinnen und Ärzte. Fatima Cody Stanford, Internistin mit Adipositas-Schwerpunkt an der Harvard Medical School im US-Bundesstaat Massachusetts, hat bereits viele übergewichtige Menschen behandelt, berichtet sie dem Fachmagazin "Nature". Sie kann auch von vielen Erfolgen berichten: "Eine Frau, die ich jahrelang betreut habe, hatte durch das Abnehmen wirklich beeindruckende Werte bei Cholesterin, Blutdruck und Blutzucker." Die Patientin wollte trotzdem weiter abnehmen, weil sie laut ihrem BMI immer noch übergewichtig war.

Der "durchschnittliche Mann"

Was die Ärztin weiß und die Patientin außer Acht lässt: Der BMI misst gar nicht die Körperfettmenge, weitere Werte wie eben Cholesterin oder Blutdruck bleiben komplett außen vor. Das liegt an seiner Entstehungsgeschichte. Die Kennzahl wurde im Jahr 1832 von dem belgischen Mathematiker Adolphe Quetelet entwickelt, er war auf der Suche nach einer Formel, die den "durchschnittlichen Mann" beschreibt. Dabei hatte er weder Blutwerte noch Übergewicht im Auge, von Ersteren hatte man damals noch gar keine Ahnung. Er wollte einfach eine Formel finden, die Eigenschaften und Verhalten von Menschen ähnlich der Gauss'schen Normalverteilung berechnet. Seine Daten hatte er von rund 5.000 weißen Männern, Frauen oder unterschiedliche ethnische Gruppen fanden in seinen Überlegungen keinen Niederschlag. Seine auf dieser Basis erstellte Formel wurde schließlich als Quetelet-Index bekannt.

Zum heute in den Köpfen so fest verankerten BMI wurde die Formel erst im Jahr 1972. Der amerikanische Physiologe Ancel Keys war auf der Suche nach einem einfach zu erstellenden Gradmesser für Fettsucht. Er stieß auf Quetelets Formel, stellte fest, dass sich damit die Dicke des Körperfetts am besten schätzen lässt, und nannte sie "Body-Mass-Index". Und wohl weil der Wert so leicht und vor allem ohne Kosten zu ermitteln war, wurde der BMI zum allgemeinen Gradmesser für Übergewicht.

Und tatsächlich korreliert der BMI, umgelegt auf eine Bevölkerung, mit dem Sterberisiko. Am unteren Ende, also wenn eine Person als untergewichtig gilt, ist es erhöht. In der Mitte nimmt es ab und steigt wieder an, wenn eine Person als übergewichtig oder adipös gilt. Keys selbst war übrigens dagegen, die Formel auf einzelne Patientinnen und Patienten anzuwenden, er fand sie nur als Messinstrument für Gruppen sinnvoll. Dieser Vorbehalt ging jedoch unter.

Dabei berücksichtigt der BMI keinen der Werte, die tatsächlich Information darüber geben, wie gesund – oder eben nicht gesund – ein Mensch mit einem bestimmten Gewicht ist. Denn nicht jede Person mit hohem BMI hat gleich Lifestyle-Erkrankungen oder ein erhöhtes Sterberisiko. Trotzdem wird er immer noch als Hauptkriterium für die Diagnose von Adipositas herangezogen. Deshalb gibt es mittlerweile viele Fachärztinnen und -ärzte, die bei Diagnose und Behandlung von Fettleibigkeit – eine von der Weltgesundheitsorganisation WHO anerkannte Krankheit – weitere Werte einschließen will. Auch die American Medical Association AMA forderte zuletzt, dass man zusätzlich zum BMI mehr gewichtsbezogene Messwerte heranziehen solle.

Eher grobe Messgröße

Die Befürchtung derzeit ist nämlich, dass die steigende Nachfrage nach den zuletzt zugelassenen Medikamenten zur Gewichtsreduktion, für deren Einsatz ausschließlich der BMI herangezogen wird, den Fokus auf diesen unzulänglichen Wert noch weiter einzementiert. Dabei, betont Stanford, "wissen wir nichts über den Gesundheitszustand einer einzelnen Person, wenn wir nur Größe und Gewicht heranziehen".

1993 legte die WHO die Grenzlinien für Unter-, Normal-, Übergewicht und Adipositas fest. Liegt der BMI unter 18,5, ist man untergewichtig, ab 25 ist man zu schwer. Und ab einem BMI von 30 gilt man als fettleibig. Dabei lösen sich diese klaren Kategorien ziemlich schnell auf, wenn man ein Individuum untersucht. Susan Yanovski, beim US-Institute for Health verantwortlich für den Bereich Adipositas, urteilt: "Der BMI ist eine eher grobe Messgröße zur Bestimmung von Gesundheitsrisiken."

Studien korrelieren nicht zwingend mit den in den Köpfen verankerten Risiken in Bezug auf den BMI. Eine im Juli 2023 publizierte Studie etwa zeigt, dass das Sterberisiko von Menschen mit Übergewicht, also einem BMI zwischen 25 und 29, ähnlich ist wie von Menschen mit normalem Gewicht. Das zeigen auch schon frühere Analysen. Eine weitere Studie zeigt, das rund 30 Prozent der Teilnehmenden mit Adipositas einen guten kardiometabolischen Gesundheitszustand haben, definiert durch Faktoren wie Blutdruck und Cholesterinspiegel. Umgekehrt war etwa der gleiche Prozentsatz an Teilnehmenden mit gesundem BMI kardiometabolisch ungesund.

"Doch wir sind so fixiert auf den BMI als Gradmesser, dass wir nicht wirklich akzeptieren, dass Gewicht kein guter Indikator für Gesundheit ist", bedauert Sarah Nutter, Psychologin und Gewichtsstigmatisierungsforscherin an der University of Victoria in Kanada.

Gesündere Verteilung

Tatsächlich steht außer Zweifel, dass zu viel Fettgewebe, vor allem im Bauchraum, die Organe schädigt, das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen erhöht und massive Auswirkungen auf die geistige, körperliche und funktionelle Gesundheit haben kann. Der BMI gibt aber keine Auskunft über die Körperfettmenge, zwei Erwachsene mit ähnlichem BMI können eine ganz unterschiedliche Körperzusammensetzung haben. Das Zusammenspiel aus Fettmenge, Gesundheit und BMI unterscheidet sich auch je nach Alter und Geschlecht. Ältere Erwachsene haben im Normalfall mehr Fett und weniger Muskelmasse als jüngere. Und Frauen haben beim gleichen BMI tendenziell mehr Körperfett als Männer.

Die Verteilung dürfte bei den Frauen dafür gesunder sein, betont der Kardiologe und Adipositas-Forscher Francisco Lopez-Jimenez von der Mayo Clinic in Rochester im US-Bundesstaat Minnesota. "Bei ihnen ist das Fett tendenziell an Gesäß, Hüften und Oberschenkel gespeichert. Bei Männern sammelt es sich eher am Bauch an. Dieses viszerale Fett ist aber stoffwechselaktiver als jenes, das direkt unter der Haut liegt." Es ist an Insulinresistenz, Herzerkrankungen und weiteren Stoffwechselproblemen beteiligt. Lopez-Jimenez betont: "Selbst bei einem gesunden BMI kann dieses Fett Probleme verursachen. Der Fokus auf den BMI hindert uns aber daran, die Gefahr solcher Erkrankungen bei Normalgewichtigen zu erkennen." Er beurteil deshalb die Indizes, nach denen die meisten Länder Übergewicht oder Fettleibigkeit diagnostizieren, als "irgendwo zwischen wissenschaftlich fundiert und willkürlich".

Internistin Stanford weist außerdem darauf hin, dass der BMI ausschließlich mit Daten aus Messungen an weißen Menschen ermittelt wurde. "Andere ethnische Gruppen passen nicht ganz in diese engen Parameter." Daten zeigen, dass je nach ethnischer Zugehörigkeit die Fettverteilung unterschiedlich ist. Asiaten etwa haben bei einem niedrigeren BMI tendenziell ein höheres Risiko für Herzerkrankungen als Weiße. Die WHO empfiehlt deshalb für asiatische Länder eine niedrigere BMI-Grenze. Außerdem soll man zusätzlich andere Messwerte wie etwa den Taillenumfang oder die Körperzusammensetzung heranziehen.

Im Fachmagazin "Nature" wird empfohlen, den BMI eher als Screening-Hilfsmittel statt als Diagnosekriterium heranzuziehen. So könne man feststellen, wer von weiteren Tests profitiere. Stanford sagt: "Ich bekomme dadurch ein Gefühl dafür, wie viel Gewicht eine Person trägt. Dann muss ich aber abklären, wie gesund sie mit diesem Gewicht ist." Wichtige Parameter dafür sind eben Cholesterin, Blutzucker, Familienanamnese und auch die Genetik.

Mehr als der BMI

Wie eine Lösung dieses Dilemmas aussehen könnte, ist unklar. Es gibt aber erste Versuche, Adipositas anders als über den BMI zu diagnostizieren. Internistin Stanford gehört einer Kommission von rund 60 Adipositas-Forschenden aus der ganzen Welt an, die von der Zeitschrift "Lancet Diabetes & Endocrinology" und dem Institute of Diabetes, Endocrinology and Obesity der Kings Health Partners in London organisiert wurde. Die Kommission will diagnostische Kriterien entwickeln, indem sie jedes wichtige Organsystem untersucht. So will man besser verstehen, wie genau sich das Gewicht auf die Gesundheit auswirkt. Ein Bericht soll voraussichtlich im nächsten Jahr publiziert werden.

Die heute am weitesten verbreitete Alternative zum BMI kommt aus einer hoffnungslos überlasteten Adipositas-Klinik im kanadischen Edmonton, dem Royal Alexandra Hospital. Dort standen Mitte der 2000er-Jahre rund 2.000 Menschen auf der Warteliste zur Behandlung, die durchschnittliche Wartezeit betrug fast 18 Monate. Man arbeitete nach dem Prinzip "first come, first served".

"Aber der BMI ist kein guter Indikator dafür, wen man bei der Notfallversorgung bevorzugen sollte", sagt Arya Sharma, der damalige Direktor der Klinik. "Man weiß dadurch, wie groß jemand ist. Aber nicht, wie krank jemand ist." Er entwickelte deshalb gemeinsam mit anderen ein fünfstufiges System, das 2009 publiziert wurde. Dieses Edmonton Obesity Staging System (EOSS) bezieht neben dem BMI auch die körperliche, geistige und funktionelle Gesundheit mit ein. Hat eine Person mehrere gewichtsbedingte Beschwerden, wie etwa Bewegungsschwierigkeiten, Herzerkrankung oder Angstzustände im Zusammenhang mit Adipositas, ist sie gefährdeter als eine Person mit dem gleichen BMI, die solche Probleme nicht hat.

Seit 2020 ist EOSS in den kanadischen Leitlinien für Adipositas verankert, Abwandlungen davon wurden in Chile und Irland eingeführt. Doch der Ansatz, in der Diagnose über den BMI hinauszugehen, steht noch ganz am Anfang. Erste Kriterien fließen bereits in die Richtlinien ein. Doch Stanford weiß: "Die größte Hürde wird sein, die Anwendung in die klinische Praxis zu bringen." (Pia Kruckenhauser, 23.10.2023)