Magyarázat mindenre Explantion of Everything
Ábel (Gáspár Adonyi-Walsh) liebt die schlaue Janka, doch sein Examen wird im Eröffnungsfilm "Magyarázat mindenre" zum Politikum.
Viennale

Das Schicksal von Eröffnungsfilmen großer Filmfestivals ist kein leichtes. Rebecca Miller durfte etwa dieses Jahr die Berlinale wohl nur deshalb anstimmen, weil sie mit Anne Hathaway, Peter Dinklage und Marisa Tomei ordentliches Starpotenzial aufweisen konnte. Dennoch verließen die Galagäste während She Came to Me reihenweise den Saal, und ein regulärer Kinostart steht auch noch aus.

Schade, denn Millers Film ist ein wunderbares Kinokuriosum über einen mit sich ringenden Operndirigenten (Dinklage), seine Frau (Hathaway) und seine Geliebte (Tomei). Das klingt albern, ist es stellenweise wohl auch, aber die spielfreudigen Blüten, die der Film treibt, sieht man nicht oft. Schön, dass die Viennale das gesehen hat. Und wer neugierig geworden ist, wird She Came to Me am 20. Oktober, dem zweiten Festivaltag, sehen können.

She Came to Me | Official Trailer (HD) | Vertical
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Eröffnung mit ungarischem Politikum

Die Gunst des Eröffnungsfilms der 61. Viennale am Abend zuvor steht aber einem anderen Film zu, und das völlig zu Recht: Gábor Reisz’ Magyarázat mindenre (Explanation of Everything) ist zwar erst der dritte Film des jungen Ungarn, aber ein intelligentes Werk, das sich in die kulturellen und politischen Gräben unseres Nachbarlands wirft. Und das, ohne einen gewissen Frohsinn zu verlieren. Der junge Ábel (toll: Adonyi-Walsh Gáspár) ist in Janka verliebt. Die wiederum schwärmt für ihren Geschichtslehrer, den linksliberalen Jakab.

Vielleicht behauptet Ábel deshalb auch, Jakab hätte ihn durchfallen lassen, weil er einen National-Pin am Jackett trug. Vielleicht will er aber einfach nicht mehr der unsichtbare Loser sein, der am glücklichsten wirkt, wenn er nachts durch Budapest radelt. Die Prüfung wird zum Politikum und rüttelt das Leben aller Beteiligten – Reisz wechselt Tag für Tag die Perspektive – gehörig durcheinander. Ein fesselnder Einblick in vertraute Kämpfe: zwischen liberalen und nationalistischen Ideen, zwischen Zukunft und historischem Erbe.

Zurück in die Zukunft

Der Blick nach vorn und der Blick zurück charakterisieren auch das restliche Viennale-Programm. Zahlreiche Retrospektiven und Hommagen durchforsten das Filmerbe. Der 1928 in Berlin geborenen argentinischen Filmkünstlerin Narcisa Hirsch ist etwa eine Monografie gewidmet. Sie gilt als Grande Dame des argentinischen Experimentalfilms.

Chile steht, zum beklemmenden 50. Jahrestag des Putsches Augusto Pinochets, im Zentrum der Kinematografie "Widerstand, Erinnerung, Neuerfindung", die das dortige Filmschaffen zwischen 1963 und 2016 zeigt. Erfinderisch blieb auch der chilenische Filmemacher Raùl Ruiz (1941–2011), nachdem er sich im Pariser Exil neu entwerfen musste. Und dass die 1980er-Jahre nicht nur aus BMX-fahrenden Kids bestanden, sondern auch paranoide Seiten hatten, zeigt die Retro "Keine Angst" zum österreichischen Film der Ära. Außerdem ist dem afroamerikanischen Intellektuellen James Baldwin eine Filmreihe gewidmet.

Kurzfilm, Kracher und Gäste

Aber zurück in die Zukunft. In sieben Kurzfilmprogrammen darf man sich vom Talent aufstrebender Filmkünstler, -künstlerinnen und -kollektive überzeugen. Oder eben vom Talent jener, die der kurzen Form treu bleiben, weil sie darin ihre Ausdrucksfreiheit finden.

Kinderfilm Total Refusal
Das österreichische "pseudomarxistische" Kollektiv Total Refusal zeigt seine neue Machinima "Kinderfilm" im Kurzfilmprogramm "Encounters".
Viennale

Die Langfilmsektion widmet sich Festivalkrachern wie Yorgos Lanthimos’ Poor Things oder Michael Manns Ferrari ebenso wie den stilleren Gemütern. Etwa Eduardo Williams El Auge del Humano 3 oder Alice Rohrwachers La Chimera. Beide zählen denn auch zu den Gästen des diesjährigen Festivals, ebenso wie James Benning (Allensworth), Bertrand Bonello (La Bête) oder Lisandro Alonso (Eureka).

Letzterer wird wie die französische Kino-Grande-Dame Catherine Breillat und der rumänische Regisseur Radu Jude eine Masterclass über die jeweilige Arbeit abhalten. Der Stargast aber ist eine andere Catherine: La Deneuve stattet Wien einen Besuch ab.

Ein spannendes Kontrastprogramm verspricht da das Panel mit dem Titel "Body of Expectations" zu werden, worin über die feministische Aneignung männlicher Projektionen von Frauen diskutiert wird. Doch nicht nur Diskurs und Filme bietet die Viennale, sondern wieder viel Musik: Zum Reggaeton von Rosa Pistola kann man sich auf der Eröffnungsparty am 19. Oktober eingrooven. (Valerie Dirk, 13.10.2023)