Lange Wartezeiten auf einen Arzttermin sind, wie zuletzt eine Recherche der "Kleinen Zeitung" gezeigt hat, keineswegs eine Seltenheit mehr. Sie stehen symptomatisch für eine Verschlechterung der medizinischen Versorgung und Gesundheitserhaltung. Gleichzeitig bildet sich im staatlichen Gesundheitswesen ein medizinischer Neoliberalismus aus, der eine fortwährende Erosion der Gesundheits- und Krankenversorgung zur Folge hat.

Zusatzversicherungen als Problemlöser?

Im Gegensatz zur Österreichischen Sozialversicherung generieren sich Prämien aus Zusatz- beziehungsweise Privatversicherungen durch Risikoauslese und risikoäquivalenten Prämien, welche nach dem Alter und dem Gesundheitszustand einer Person gestaffelt sind. Häufig sind diese für Frauen teurer als für Männer. Gesundheitsversorgung wird dadurch individuell definiert und monetarisiert, da sie von der Zahlungsbereitschaft der Verbraucher:innen abhängt.

Schild mit
Längere Wartezeiten, nicht nur vor Ort, sondern überhaupt auf einen Termin sind auch dem strukturellen Wandel im Gesundheitssystem zuzuschreiben.
imago images/Robert Poorten

Der Personenkreis der (gesunden) Gutverdienenden kann somit umfangreichere medizinische Leistungen in Anspruch nehmen als Schlechtverdienende. Zieht man eine in Deutschland angefertigte statistische Auswertung über Genderverteilung von Privatversicherungen heran, lässt sich erkennen dass Männer im Jahr 2020 um 17,2 Prozent mehr private Versicherungen abgeschlossen haben als Frauen. Man könnte hinterfragen, womit dies zusammenhängt: Womöglich damit, dass Zusatzversicherungen für Frauen eben oftmals teurer sind, oder weil es um ein Vielfaches mehr Frauen sind, die in Teilzeitbeschäftigungen arbeiten,1 und sich diese Privatversicherungen nicht leisten können.

Wenn sozialer Wandel von Lebenswelten, Individualisierung und Mobilitätsanforderungen zum Familiengift werden, trägt dies dazu bei, dass weibliche Teilzeitquoten von Frauen auf sehr hohem Niveau immer noch ansteigen. Das rührt daher, da Arbeitsverhältnisse flexibler gestaltet werden (müssen), damit auch (unter anderem) für Frauen der Spagat zwischen Berufstätigkeit und privater Care-Arbeit (Haushalt und Kinderbetreuung) geschafft werden kann, wie ich bereits in einem anderen Artikel gezeigt habe. Da eben Männer aufgrund vermehrter Vollzeitbeschäftigung eher Privatversicherungen abschließen, welche ihnen die freie Arztwahl (Wahlarzt/Wahlärztin) ermöglicht und Frauen in Teilzeitbeschäftigungen sich dies eher nicht leisten können, könnte eine Divergenz zwischen männlicher und weiblicher Gesundheit in der Bevölkerung entstehen.

Prekarität der Arbeitsverhältnisse und Mehrklassenmedizin

Eine Zusatz- oder Privatversicherung ermöglicht es, Privatärzt:innen ohne eigene Kosten3 aufzusuchen. Diese haben für gewöhnlich zeitnaher freie Kapazitäten für Untersuchungstermine als Ärzt:innen innerhalb des öffentlichen Gesundheits- und Vertragssystems. Lange Wartezeiten wiederum sind eine Folge der verminderten Einnahmen der Sozialversicherung durch Teilzeitbeschäftigungen, da diese prozentual von den Löhnen und Gehältern berechnet werden. Aufgrund dieser Budgetlücke sind die Verhandlungs- und Argumentationsspielräume der Sozialversicherung mit Ärzt:innen, Gesundheitsdienstleister:innen oder anderen Vertragspartner:innen eingeschränkt.

Da keine höheren Zahlungen für Leistungen von Vertragspartner:innen aufgrund der fehlenden Einnahmen ausgehandelt werden können, kommt es zu einem Vertragsärzt:innen-Schwund. Konsequenz daraus ist, dass Angebot und Nachfrage sich schon lange nicht mehr ausgewogen gegenüberstehen. Im Zusammenhang mit prekären Beschäftigungsverhältnissen, welche die Betroffenen oftmals nicht selbst verschulden – und dem Marktdrängen von privaten Versicherungen – schreitet eine Mehrklassenmedizin in Österreich im Eiltempo voran.

Selbstverständlich hat die sich verschlechternden öffentliche Gesundheitsversorgung in Österreich (welche auf internationalem Niveau immer noch sehr gut ist) auch strukturelle Gründe, wie Landflucht, demographische Veränderungen oder eine älter werdende Bevölkerung. Die aktuellen Entwicklungen zeigen aber auch, dass Österreich auf dem Weg zur medizinischen Neoliberalisierung der Gesundheitsvorsorge ist, die durch prekäre Beschäftigungsverhältnisse verstärkt wird.

Aufgrund der jahrzehntelangen Versäumnisse der Politik, bedarf es neben einem Ausbau der Kinderbetreuung und Infrastrukturverbesserungen daher auch einer Verbesserung der medizinischen Versorgung, sowohl im urbanen als auch im nicht-urbanen Raum. Weitere (politische) Herausforderungen bestehen darin, die Mobilitätsanforderungen in den politischen Diskurs miteinzubeziehen und alles zu versuchen, um das Vertragspartner:innen-System attraktiver zu gestalten.

Die Politik hat lange die Probleme sowohl des Ärzt:innenmangels als auch die Probleme der Pflege und Krankenanstalten (was uns die Covid-19-Pandemie klar vor Augen führte) nicht in die politische Agenda mit einbezogen, zumindest wurden sie jahrzehntelang nicht adäquat auf der politisch-medialen Bühne verhandelt. Auch wenn nun der Ausbau der Primärversorgungszentren – erste Anlaufstellen für medizinische Probleme, die die Ambulanzen der Krankenhäuser entlasten sollen – forciert wird, er kommt gefühlt 20 Jahre zu spät und wird allein auch nicht ausreichen, die teilweise unzureichende Gesundheitsversorgung in den Griff zu bekommen, da die Ärzt:innen fehlen. Schlicht und ergreifend fehlt es an Attraktivität, eine der knapp 300 freien Kassenstellen zu besetzen. Schlussendlich werden es Frauen oder Menschen mit Migrationshintergrund sein, welche die Folgen der oft unverschuldeten Prekaritäten am heftigsten zu spüren bekommen. (Patrik Reisinger, 16.11.2023)