Donald Tusk jubelt über den sich abzeichnenden Erfolg bei der Parlamentswahl.
Der liberale Oppositionsführer und Ex-Premier Donald Tusk sieht seine Zeit erneut gekommen.
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Die Euphorie stützte sich vorerst nur auf Nachwahlbefragungen, doch sie war riesig: "Die Demokratie hat gewonnen, das ist das Ende der PiS-Regierung", verkündete am Sonntagabend der polnische Oppositionsführer Donald Tusk unter dem Jubel seiner Anhänger. Seine liberale Bürgerkoalition (KO) hat laut Prognosen gute Chancen, mit zwei weiteren Gruppierungen eine Regierungsmehrheit zimmern zu können. Im Lager der PiS, also der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit, gab man sich etwas kleinlauter als sonst: Man werde nicht zulassen, "dass Polen verraten wird", erklärte Parteichef Jarosław Kaczyński – "unabhängig davon, ob wir an der Macht sind oder in der Opposition".

Video: Opposition um pro-europäischen Donald Tusk bei polnischer Parlamentswahl vorn
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Damit bemühte Kaczyński zwar einmal mehr sein Wahlkampfnarrativ, in dem er sich und die PiS als Retter der polnischen Souveränität dargestellt und den ehemaligen EU-Ratspräsidenten Tusk als Handlanger Brüssels, Berlins und sogar Moskaus gebrandmarkt hatte. Immerhin aber schloss er einen Gang in die Opposition am Wahlabend nicht aus. Eine Selbstverständlichkeit, könnte man meinen, aber doch bemerkenswert für einen Mann, dessen Partei in den vergangenen zwei Legislaturperioden unter lautem Protest der Opposition und Brüssels die Justiz umgebaut und die öffentlich-rechtlichen Medien zu Propagandakanälen in eigener Sache gemacht hat.

Machtwechsel in Polen? Das sagen Menschen in Warschau.
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Premierminister Mateusz Morawiecki gab sich hingegen zweckoptimistisch: Seine Partei PiS werde versuchen, eine stabile Regierung zu bilden, sollte sie dazu den Auftrag vom Präsidenten bekommen, sagte er dem Sender TVP Info. Davon gehen in Polen die meisten auch aus. Immerhin stammt Staatschef Andrzej Duda selbst aus den Reihen der PiS, und die Partei kam auch diesmal klar auf den ersten Platz: Die Auszählung zog sich in die Länge, doch auch am Montagnachmittag sahen Prognosen die PiS bei etwa 37 Prozent.

Dass die seit 2015 regierenden Nationalkonservativen wirklich Chancen auf eine dritte Amtsperiode haben, erschien allerdings auch noch Montagfrüh eher unwahrscheinlich: Im Sejm, dem Abgeordnetenhaus des polnischen Parlaments, kämen sie auf weniger als 200 Sitze. Die erforderliche Regierungsmehrheit dort liegt aber bei 231 der 460 Mandate. Und der Rechts-außen-Partei Konfederacja, die noch am ehesten Überschneidungen mit der PiS hätte, aber mit ihr gar nicht koalieren will, wurden maximal 15 Mandate vorausgesagt. Insgesamt wäre das also zu wenig für eine Regierung unter Führung der PiS.

Anders sah die Lage für Tusk und seine Bürgerkoalition aus: Sie kam in den Prognosen auf 29 Prozent und durfte mit 158 Mandaten rechnen. Gemeinsam mit zwei kleineren Gruppierungen, dem konservativ-zentristischen Dritten Weg (Trzecia Droga) und der linken Lewica, hätte sie voraussichtlich die nötige Mehrheit, um die PiS von der Macht zu verdrängen. Tusk, der nicht nur ehemaliger EU-Ratspräsident ist, sondern auch Ex-Chef der Europäischen Volkspartei (EVP), darf also auf eine neuerliche Ernennung zum Regierungschef hoffen. Bereits von 2007 bis 2014 war Tusk Premierminister Polens.

Isolationistischer Kurs

Die Wahl galt als Richtungsentscheidung zwischen der PiS und der KO. Die PiS hatte das EU-Mitgliedsland Polen in den vergangenen acht Jahren immer mehr auf einen isolationistischen Kurs gebracht und dabei eine Reihe von Konflikten mit Brüssel in Kauf genommen. Insbesondere die umstrittene Justizreform sorgte immer wieder für Auseinandersetzungen – und das nicht nur innerhalb Polens. Die Opposition im Land, die Europäische Kommission in Brüssel und auch die meisten europäischen Partnerstaaten sorgten sich zusehends um die Unabhängigkeit polnischer Gerichte und warfen der Regierung in Warschau die Politisierung der Justiz vor.

Für einen Höhepunkt des Streits sorgte im Oktober 2021 eine Entscheidung des polnischen Verfassungsgerichts, mit der es nationalem Verfassungsrecht Vorrang vor dem europäischen Gemeinschaftsrecht gab. Damit, so auch der Vorwurf zahlreicher Fachleute, würde eine der tragenden Säulen der europäischen Integration, nämlich Rechtssicherheit innerhalb der EU, ins Wanken geraten. Brüssel reagierte mit finanziellen Sanktionen. Unter den gegebenen rechtlichen Voraussetzungen könne die widmungsgemäße Verwendung europäischer Steuergelder nicht mehr garantiert werden.

Die Streitigkeiten mit Brüssel wurden teils so heftig ausgetragen, dass manche bei einem neuerlichen Wahlsieg der PiS gar Bestrebungen zum Austritt Polens aus der EU befürchteten. Andere schätzten diese Gefahr als geringer ein und verwiesen auf die polnische Bevölkerung, die Umfragen zufolge vergleichsweise proeuropäisch eingestellt ist. Zudem gibt es in Polen – anders als im ebenfalls nationalkonservativ regierten Ungarn – viele Großstädte, in denen eine liberale, proeuropäisch gesinnte Bürgergesellschaft gedeiht und zum Teil politisch den Ton angibt.

Vergiftetes Kilma

Genau dieser Streit zwischen den beiden größten Lagern in Polen hat aber zuletzt auch das innenpolitische Klima immer mehr vergiftet. Neben der bereits erwähnten Justizreform sind es etwa Themen wie das restriktive Abtreibungsrecht, der Umgang mit der LGBTIQ-Community oder eben die Umwandlung der öffentlich-rechtlichen Medien in eine PiS-Propagandamaschinerie, die für einen scharf ausgetragenen Dauerkonflikt zwischen Regierung und Opposition sorgten. Zuletzt war die PiS auch wegen der hohen Inflation und wegen eines Skandals rund um die Vergabe von Schengen-Visa an polnischen Konsulaten in die Kritik geraten. Letzterer traf die Regierung von Premier Morawiecki an einer empfindlichen Stelle, ist es doch gerade die PiS, die sich europaweit besonders lautstark als Kämpferin gegen illegale Migration hervortut.

Nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine nahm das traditionell Moskau-kritische Polen allerdings eine Vorreiterrolle bei der Hilfe für Kiew ein – nicht nur was die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine betrifft, sondern auch bei Waffenlieferungen und politischer Unterstützung für den angegriffenen Nachbarn. Erst in der Schlussphase des Wahlkampfs hatte Morawiecki eine Abkehr von diesem Kurs signalisiert. Beobachter werteten das unter anderem als Zugeständnis an den rechten Rand des politischen Spektrums, wo die nationalistische und neoliberale Partei Konfederacja vor allem bei jungen Wählern punkten kann. Von dieser unterscheidet sich die PiS auch durch ihre Sozialpolitik, die zwar keine Stärkung der sozialen Infrastruktur anstrebt, aber mit finanziellen Umverteilungsmaßnahmen ihre überwiegend ältere Stammklientel anspricht.

Gescheitertes "Referendum"

Einen Misserfolg verzeichnete die PiS auch mit dem "Referendum", das gleichzeitig mit den Wahlen durchgeführt wurde. Darin wurden vier Fragen gestellt, die laut Kritikern vor allem suggestiven Charakter hatten. In einer davon erkundigte sich die Regierungspartei etwa, ob man "die Aufnahme von tausenden illegalen Einwanderern aus dem Nahen Osten und Afrika" unterstütze – und zwar "nach dem von der europäischen Bürokratie auferlegten Mechanismus der verpflichtenden Aufnahme".

Die Opposition hatte den Schachzug als zusätzliche Emotionalisierung und Vereinnahmung des Wahlkampfs durch die PiS angeprangert. Die Wählerinnen und Wähler gaben ihr offenbar recht: Während die Wahlberechtigung insgesamt bei einer Rekordhöhe von fast 73 Prozent lag, beteiligten sich an dem "Referendum" nur rund 40 Prozent. Dieses blieb also unter dem erforderlichen 50-Prozent-Quorum und ist damit ungültig. (Gerald Schubert, 16.10.2023)