Nirvana 1993: Am Höhepunkt ihrer Kreativität - und knapp vor ihrem Ende.
Nirvana 1993: Am Höhepunkt ihrer Kreativität - und knapp vor ihrem Ende.
Universal/Anton_Corbijn

Steve Albini ist ein sturer Hund. Er stützt sich auf Prinzipien, an denen er eisern festhält. Als 1993 die Band Nirvana bei dem Toningenieur anfragte, ob er ihr neues Album aufnehmen würde, meldete er sich nach ein paar Tagen mit einem Brief. Nirvana waren damals die heißeste Band der Welt. Statt der von der Plattenfirma erwarteten 50.000 Alben hatten Nirvana von ihrem Majordebüt Nevermind Millionen verkauft, 34 Millionen sind es bis heute. Jeder andere Produzent hätte nach so einer Anfrage alles andere links liegen gelassen, nicht aber Steve Albini.

In seinem Brief stellte er eine Reihe von Bedingungen, unter denen er bereit wäre, mit der Band zu arbeiten. Eine lautete, er dürfe keine Anteile an den Einnahmen der Verkäufe erhalten, man möge ihn bezahlen wie einen Installateur: für die Zeit, die er für seine Arbeit brauche. Üblich war damals eine Beteiligung an den Erlösen von ein bis eineinhalb Prozent, Steve Albini hätte bis heute mehrere Hunderttausend Dollar verdient. Doch sein Ethos verbat ihm das.

Am Ende fand man zusammen, in zwei Wochen produzierte er mit Nirvana in einem Studio in Minnesota das dritte Album der Band: In Utero. 30 Jahre ist das her, es gilt als musikalisches Testament der Band und des im April 1994 mittels Suizids aus dem Leben gegangenen Sängers Kurt Cobain. Zum Jubiläum ist es nun in einer umfangreichen Neuedition aufgelegt worden – mit 53 unveröffentlichten Songs sowie zwei Live-Mitschnitten.

Nirvana - Very Ape (Legendado)
Rock Dominator

Grund für die Entscheidung zugunsten Albinis war dessen Faible für analoge Aufnahmetechnik und deren natürlicher Sound. Nirvana war mit dem ihrer Meinung nach zu glattgebügelten Klang von Nevermind nicht glücklich gewesen; Albini sollte das gewünschte Resultat garantieren. Das gelang.

In Utero ist das beste Nirvana- Album: ein ruppiges Machwerk, staubtrocken, eine Mischung aus explosiven Songs und introvertierten. Doch als das Trio die Bänder der Plattenfirma vorspielte, bestätigten sich die Vorsichtsmaßnahmen, die Albini in seinem Brief angesprochen hatte. Darin verbat er sich Remixe anderer oder das Hinzuziehen weiterer Produzenten vonseiten der Plattenfirma.

Diese soll angesichts des Resultats entsetzt gewesen sein, kein radiotauglicher Hit wäre darauf. Es folgte ein Gezerre zwischen Albini, Geffen Records und der Band, das mit ein paar faulen Kompromissen endete. Als das Album erschien, erwiesen sich alle vorauseilend gefüllten Hosen als unbegründet: In Utero schoss in vielen Ländern auf den ersten Platz und hielt sich oft jahrelang in den Charts – nicht zuletzt bedingt durch den Tod Cobains. Über 15 Millionen Mal hat sich das Studioalbum dieser epochemachenden Altkleidersammlung verkauft.

Nirvana - Heart-Shaped Box (Official Music Video)
NirvanaVEVO

Was damals noch als roh und brutal galt, hat sich mit veränderten Hörgewohnheiten relativiert. Dennoch ist In Utero ein Meisterwerk in seinem Fach.

Als gerade die Trittbrettfahrer des unerwarteten Erfolgs von Nevermind mit ihren schlechten Kopien in die Gänge kamen, warfen Nirvana diesen Bastard auf den Markt. In Utero wurde, ob seiner Wucht und seiner Bockigkeit, als Akt der Verweigerungshaltung gegenüber dem eigenen Erfolg interpretiert.

Für den Hinterwald

Zwar ließ sich die Band dazu hinreißen einen Song so ähnlich anzufangen wie ihren Hit Smells Like Teen Spirit. Doch der Song hieß Rape Me ("Vergewaltige mich") und verunmöglichte damit jeden Radioeinsatz in den US of A. Für Handelsketten in den für christlich-fundamentalistische Ansichten anfälligen US-Gegenden stellte bereits das Cover mit dem gläsernen Engel eine Gottlosigkeit dar. In eigenen Editionen wurde Rape Me in ein sinnfreies Waif Me umgedichtet. Alles, um im Hinterwald niemanden auf blöde Gedanken zu bringen.

Nirvana - Rape Me (Live And Loud, Seattle / 1993)
NirvanaVEVO

Nirvana – das waren damals neben Cobain Krist Novoselic und Dave Grohl – zeigten sich ausgeruht und auf der Höhe ihrer Kunst. Die rabiaten Stop-and-Go-Motive, die zwischen lauernder Stille und explodierendem Lärm taumelnden Songs erscheinen zeitlos. Albinis sich an keine Modetorheiten klammernde Produktion besteht den Test der Zeit. Man kann In Utero zugleich als Protoytp einer Ästhetik betrachten, die er mit seiner Band Shellac ab 1994 fortführte – zuvor hatte er in den 1980ern mit Big Black oder Rapeman bilderstürmerischen Lärmrock veröffentlicht.

Wenige Monate nach der Veröffentlichung von
Wenige Monate nach der Veröffentlichung von "In Utero" beging Kurt Cobain Suizid. Das Album wurde zur Projektionsfläche der globalen Trauergemeinde.
Universal/Steve Gullick

Nach Cobains Tod wenige Monate später wurde In Utero nachgerade mythisch aufgeladen, diente als Projektionsfläche einer trauerenden globalen Fangemeinde. Das war legitim, aber zum Vergessen. Ganz anders als das Album, das nun in umfangreichen Neuauflagen das enorme Talent der Protagonisten in Erinnerung ruft – oder sich von Nachgeborenen erstmals entdecken lässt. (Karl Fluch, 7.11.2023)