Tonio Schachinger
Er freue sich sehr über den Preis, sagte Tonio Schachinger am Montagabend in Frankfurt. Er erhielt als dritter Österreicher den marktwirksamen Deutschen Buchpreis für den Roman des Jahres.
APA/dpa/Arne Dedert

Voriges Jahr widmete Kim de l'Horizon, die erste nichtbinäre Gewinnerperson, den Sieg beim Deutschen Buchpreis den protestierenden Frauen im Iran und griff zum Rasierer. Die Haare rasierte sich der Wiener Tonio Schachinger am Montagabend nicht ab, als er in Frankfurt für seinen Roman Echtzeitalter den diesjährigen Preis zugesprochen bekam. Die Weltpolitik adressierte in einer kurzen Rede aber auch er, nachdem er sich gefreut, seiner Frau und seinem Verlag gedankt hatte. "Wir wissen alle, dass es sinnlos ist, wenn ich irgendwas dazu sage, ein lächerlicher kleiner Autor aus Österreich", referierte er auf den Angriff auf Israel.

Aber er könne auch nicht nichts sagen, in diesem Dilemma befänden wir uns: dass es unerträglich sei zu sehen, was auf dieser Welt passiere, und es schwer sei, darüber zu sprechen, wenn man nicht betroffen sei, aber auch wenn man betroffen sei. "Und ich habe nichts zu einer Lösung beizutragen, außer dass ich hoffe, dass Leute nicht umgebracht werden und nicht nur in Europa Juden und Jüdinnen sich sicher fühlen." Dass dem nicht so sei, sei sehr beschämend.

BWL aus Prinzip

Unter den sechs Autorinnen und Autoren der Shortlist war Schachinger der einzige verbliebene Österreicher. Der 31-Jährige erzählt in Echtzeitalter eine Coming-of-Age-Geschichte im Wiener Elitegymnasium, von erster Liebe, Leidensgenossen- und Freundschaften, jugendlicher Rebellion, dem Tod des Vaters und der Flucht in Computerspiele genauso wie dem repressiven bürgerlichen Milieu. Jus oder BWL studieren diese Absolventen später einmal aus Prinzip, nicht aus Interesse. Die heimische Innenpolitik der 2010er-Jahre schlägt sich auch mit ihren beschämendsten Kapiteln nieder. "Es geht nicht um Bildung, sondern darum, seinen sozialen Status zu verfestigen", fasst der Autor seinen zweiten Roman zusammen.

1992 in Neu-Delhi geboren, besuchte der Sohn eines österreichischen Diplomaten und einer mexikanisch-ecuadorianischen Künstlerin selbst das sagenumwobene Wiener Elitegymnasium Theresianum, das Vorbild für das Marianum im Roman war, auf das Romanheld Till geht. Später studierte Schachinger an der Angewandten Sprachkunst.

Dritter Österreicher

Schon 2019 hatte es sein vielgelobtes Debüt Nicht wie ihr über einen Fußballspieler auf die Shortlist für den Deutschen Buchpreis geschafft. Für sein zweites Buch wechselte er bereits vom heimischen Verlag Kremayr & Scheriau zum größeren deutschen Haus Rowohlt. Vor ihm haben aus Österreich bisher Robert Menasses Brüssel-Roman Die Hauptstadt (2017) und Arno Geigers Es geht uns gut (2005) den Preis erhalten. Die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung kürt seit 2005 im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse – die größte Buchmesse der Welt startet am Mittwoch zum 75. Mal – den Roman des Jahres, heuer hatten Verlage aus Deutschland, der Schweiz und Österreich 196 Romane eingereicht. Der breitenwirksame Preis sorgt stets für steigenden Absatz.

Mit Echtzeitalter gewinnt ein auf 360 Seiten fabelhaft feinnerviges, reflektiertes und detailreiches Werk. Pointen und die Psychologie des Heranwachsens kann Schachinger gleichermaßen. Die Jury lobte das Buch als "Gesellschaftsroman" und Spiegel der "politischen und sozialen Verhältnisse", erzählerisch sei es "herausragend" und "zeitgemäß".

Ernsthafte Konkurrenz

Von der siebenköpfigen Jury aus Kritikerinnen, Literaturwissenschaftern und Buchhändlern ebenso für den Preis nominiert waren Terézia Moras Muna oder Die Hälfte des Lebens, Necati Öziris Vatermal, Anne Rabe mit Die Möglichkeit von Glück, Sylvie Schenk mit Maman und Ulrike Sterblichs Drifter. Mora war der etablierteste Name der Shortlist. Kommentaren, dass auf der Liste wenig "mittelalter Mann" vertreten gewesen sei, antwortete Juryvorsitzende Katharina Teutsch: "Die Liste ist ein Abbild unserer Leseerfahrungen und Leseinteressen." Thematisch spannte sie sich von einer Gewaltbeziehung über eine migrantische Familiengeschichte und Fremdenhass in der DDR bis zur autobiografischen Erforschung einer kühlen Mutter.

Auf der Longlist waren neben Schachinger aus Österreich noch Clemens J. Setz, Raphaela Edelbauer, Thomas Oláh, Teresa Präauer und Kathrin Röggla gestanden.

Debattenrundschau

Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig zeigte sich in einer kurzen Rede am Beginn der Preisverleihung verstört darüber, dass "neuerdings Autorinnen und Autoren das Recht abgesprochen wird, über etwas zu schreiben, das sie nicht persönlich erlebt haben", und erntete dafür Beifall im Frankfurter Römer. Sie bezog sich damit auf den Fall der in Westdeutschland geborenen und aufgewachsenen Autorin Charlotte Gneuß, die in ihrem Roman "Gittersee" heuer über die DDR, die ihre Eltern vor dem Mauerfall verlassen hatten, geschrieben und damit Debatten ausgelöst hatte. "Wenn das der Maßstab sein soll, dann können wir nämlich die Literaturgeschichte einmotten." Die Vorsteherin des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, verwies darauf, dass unfreie Staaten Angst vor der Freiheit der Fiktion hätten. (Michael Wurmitzer, 16.10.2023)