Oft "klimaneutral", manchmal sogar "klimapositiv": Wer in den Supermarkt geht, dem kommt es bisweilen so vor, als könne er allein mit seinem Einkauf die Welt retten. Es gibt kaum ein Produkt, zumindest in den höheren Preisklassen, auf dem nicht ein grünes Label prangt. Was steckt dahinter? Foodwatch-Experte Manuel Wiemann sieht im STANDARD-Gespräch die grüne Wellt skeptisch.

STANDARD: Wenn ich im Supermarkt auf einem Produkt "klimaneutral" lese, was darf ich mir erwarten?

Wiemann: Ehrlich gesagt, nicht viel. "Klimaneutral" suggeriert, dass ein Produkt keinen Schaden für das Klima bewirkt und dass alle Emissionen der Produktion ausgeglichen werden. Hersteller kaufen CO2-Zertifikate, die die entstandenen Emissionen ausgleichen sollen. Untersuchungen zeigen jedoch deutlich, dass auf diese Zertifikate kein Verlass ist. Verbraucherinnen und Verbraucher können dem Begriff "klimaneutral" nicht trauen.

Schönes Label, nichts dahinter? Foodwatch-Experte Manuel Wiemann zweifelt den Wert Etiketten á la
Schönes Label, nichts dahinter? Foodwatch-Experte Manuel Wiemann zweifelt den Wert von Etiketten à la "klimaneutral" und "klimapositiv" an.
DER STANDARD

STANDARD: Trotzdem sind diese Labels in den Regalen ziemlich prominent vertreten.

Wiemann: Wir haben ein Problem mit der Klimakrise. In der Lebensmittelproduktion werden zu viel CO2 und andere Treibhausgase ausgestoßen. "Klimaneutral" soll an der Stelle bedeuten, dass genauso viele Gase wieder aus der Atmosphäre rausgenommen wurden, wie bei der Produktion hineingekommen sind. Das funktioniert aber vorne und hinten nicht. Das Öko-Institut hat sich im Auftrag der Europäischen Kommission hunderte Kompensationsprojekte angeschaut, mit dem Ergebnis, dass nur zwei Prozent der Projekte "mit einer hohen Wahrscheinlichkeit" einen Beitrag zum Klimaschutz leisten. Ein großer Teil der Zertifikate hat nicht die versprochene Wirkung auf das Klima und ist deswegen unbrauchbar.

STANDARD: Für Konsumentinnen und Konsumenten ist das sehr attraktiv. Es suggeriert, ich kann so weiter konsumieren wie bisher und dabei auch noch die Umwelt schützen.

Wiemann: Ein Problem ist, dass diese Labels auf Produkten prangen, die überhaupt nicht ökologisch sind. Beispielsweise hat der Hersteller Hipp Rindfleisch als "klimapositiv" beworben und damit suggeriert, dass man Rindfleisch bedenkenlos essen kann, ohne dem Klima zu schaden. Dabei ist die Herstellung von Rindfleisch besonders klimaintensiv. Statt sich mit einem fragwürdigen Ablasshandel als Klimaretter zu inszenieren, sollten Lebensmittelunternehmen ihre Emissionen drastisch reduzieren. Damit wäre dem Klima tatsächlich geholfen.

STANDARD: Was besonders ins Auge sticht, sind zum Beispiel Flüge, die als klimaneutral beworben werden. Kann ich als Konsument automatisch davon ausgehen, dass das Greenwashing ist?

Wiemann: Ja, ich würde mich auf solche Kompensationen nicht verlassen. Es gibt keinerlei Möglichkeiten, wie ich als Privatperson überprüfen kann, ob meine Ausgleichszahlung tatsächlich gut fürs Klima ist. Bei Foodwatch mussten wir wochenlang für ein einziges Projekt recherchieren und richtig viel Geld in die Hand nehmen, um am Ende herauszufinden, dass das Projekt das Klima kaum schützt. Studien sind eindeutig – nämlich, dass ein Großteil der Kompensationsprojekte nicht brauchbar ist.

STANDARD: Auf EU-Ebene wird gerade die Green Claims Directive verhandelt. Kann Greenwashing damit ein Riegel vorgeschoben werden?

Wiemann: Den größten Erfolg haben wir tatsächlich schon erreicht. Im Trilog haben sich Nationalstaaten, EU-Parlament und Kommission darauf verständigt, dass die Begriffe "klimaneutral", "klimapositiv" und "klimareduziert" verboten werden sollen, wenn sie auf Kompensationszahlungen basieren. Der Haken ist, dass das nur auf Produktebene gelten soll. Unternehmen könnten sich weiter als klimaneutral vermarkten.

STANDARD: Bedeutet das langfristig das Aus für "klimaneutral"-Labels auf Produkten?

Wiemann: Wahrscheinlich ja, wobei nun erst mal der Trilog vorüber ist. Nun wird der Text feingeschliffen und muss von Parlament und Rat abgesegnet werden. Es kann noch bis zu zweieinhalb Jahre dauern, bis die Richtlinie in nationales Recht übersetzt wird. Bis dahin müssen wir hoffen, dass Konzerne sich schon früher anpassen. In Deutschland gibt es bereits einige Fälle, wo Konzerne vor Gericht verloren haben oder Unterlassungserklärungen abgegeben haben.

STANDARD: Ist das nicht ein grundsätzliches Problem, dass Politik, Gerichte oder NGOs wie Foodwatch ständig einen Schritt hinterherhinken? Vor zehn Jahren wurde die gleiche Debatte über "Gesundheitslabels" geführt.

Wiemann: Konzerne sind kreativ und denken sich immer neue Werbelügen aus. Dafür nutzen sie das lasche Wettbewerbsrecht aus. Die Entscheidung des Trilogs ist ein Erfolg. Was politisch jetzt noch fehlt, sind Vorgaben, dass auch Unternehmen – abseits von Kompensationszahlungen – drastisch Emissionen reduzieren müssen.

"Ich glaube, dass die Macht der Verbraucherinnen und Verbraucher beim Einkauf beschränkt ist", sagt Manuel Wiemann.
Foodwatch

STANDARD: Können Kompensationszahlungen dennoch etwas bewirken?

Wiemann: Derzeit können Unternehmen für fünf Dollar pro Tonne Zertifikate kaufen, das ist kein Anreiz, die eigenen Emissionen drastisch zu reduzieren. Es braucht einen wirksamen CO2-Preis, die Weltbank schlägt zum Beispiel 40 bis 80 Dollar pro Tonne vor. Außerdem muss dieses Geld in sinnvolle Projekte fließen, hinter denen nicht solche komplexen, fragwürdigen Berechnungen stecken. Das Geld könnte man auch ins eigene Unternehmen stecken, beispielsweise für den Bau einer Solaranlage oder die Anschaffung eines E-Lkws. Das sind sinnvolle Ansätze, aber die lassen sich natürlich nicht so prägnant vermarkten wie der Begriff "klimaneutral".

STANDARD: Gibt es für Sie so etwas wie Best-Practice-Beispiele oder Labels, von denen Sie sagen, da kann man sich drauf verlassen?

Wiemann: (überlegt) Ich glaube, dass die Macht der Verbraucherinnen und Verbraucher beim Einkauf beschränkt ist. Daher kann ich kein Nachhaltigkeitssiegel empfehlen. Ich glaube, Verbraucher müssen sich von Vorstellungen der "Macht des Einkaufskorbs" oder des "Einkaufszettels als Wahlzettel" verabschieden. Wir sind nicht nur Verbraucher, sondern auch Bürgerinnen und Bürger, und als solche haben wir ganz andere Möglichkeiten, beispielsweise auf eine Demonstration zu gehen oder im Kindergarten regionale Lebensmittel einzufordern. Zu sagen: "Dein Einkauf rettet die Welt", bedeutet, dass Politik und Industrie so weitermachen können wie bisher. Damit müssen keine strengeren Klimaschutzgesetze geschaffen werden, und die Industrie kann die Verantwortung auf die Verbraucher abschieben. Ich bin der Meinung, Politik und Industrie müssen Verantwortung übernehmen! (Johannes Greß, 3.11.2023)