Gebirgsforscher Kay Helfricht
Mit dem Wissenschafter auf dem Gletscher: Gebirgsforscher Kay Helfricht vermisst die schwindenden Eismassen in den Ostalpen und erhebt die Folgen für Mensch und Natur.
Alois Pumhösel

Die Drohne steigt auf. Zielstrebig peilt sie einen Punkt am Himmel hoch über dem Bergpanorama der Tiroler Silvretta an. Sie verharrt kurz, um dann in schnurgeraden Linien das Gebiet unterhalb des Jamtalferners abzufliegen und zu vermessen – viel genauer, als ein Mensch das je könnte. Ein Laptop mit entsprechender Software am Boden ist für die Navigation zuständig. Alle paar Sekunden schießt die Drohne Fotos von dem Gebiet, das vor wenigen Jahren noch vom Eis des Gletschers bedeckt war und nun von Schutt und Wasser geprägt ist. Später soll aus diesen Bildern ein 3D-Landschaftsmodell berechnet werden.

Mit Drohne zum Gletscher

Die Drohne und die dazugehörige Messtechnik haben der Geophysiker und Gebirgsforscher Kay Helfricht und die beiden Wasserbaudoktoranden Clemens Hiller und Sebastian Leitner von der Uni Innsbruck an diesem Augusttag hier heraufgetragen. Heute macht der Gletscher, der sich einst kilometerweit fast bis hinunter zur Jamtalhütte erstreckte, einen traurigen Eindruck. Der karge Eisrest, der hinten am Talschluss klebt, bricht an mehreren Stellen auseinander. Gestein, das sich von den mittlerweile eisfreien Felswänden löst, bedeckt weite Strecken des Gletschers. Dank einer hauchdünnen Schneedecke, die ein kürzlicher Niederschlag brachte, wirkt er aber heute trotzdem weniger grau, düster und schmutzig als an anderen Sommertagen.

Das vergangene Jahr war für das Eis hier besonders verheerend. "2022 verlor der Jamtalferner das Zweieinhalbfache des durchschnittlichen Massenverlustes der vorhergehenden Jahre. Der Eispanzer büßte im Mittel über 3,5 Meter an Dicke ein", resümiert Helfricht. Der Gebirgsforscher befasst sich mit dem Monitoring und der Modellierung der schwindenden Gletscher in den Ostalpen sowie mit den Folgen der Schmelze für die Natur und die menschliche Gesellschaft. "In der Übergangsphase vom glazial geprägten zu einem eisfreien Gebirgsraum finden zahlreiche Prozesse statt, die es zu untersuchen lohnt", betont Helfricht. "Wir möchten dabei nicht nur den Gletscher besser verstehen, sondern auch die Auswirkungen seines Rückzugs auf die Landschaft."

Schotter, Sand und Geröll

Denn das Verschwinden des Eises führt nicht nur zu Veränderungen im Wasserhaushalt und beeinflusst die Ausbreitung von Fauna und Flora, sondern hat auch Folgen für die Steinschlaggefahr und den Sedimenttransport Richtung Tal. Damit sind auch Risiken für Tourismus und bestehende Infrastrukturen in den Hochgebirgstälern verbunden. Über die Auswirkungen der Gletscherschmelze sprach Helfricht vor kurzem in einer Akademievorlesung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW).

Hinter dem Laptop, der die Drohne steuert, sitzt Clemens Hiller. Ihm geht es darum, die wasserbedingten Oberflächenveränderungen im Gletschervorfeld zu kartieren und zu beobachten. Durch Niederschläge und Schmelzwasser sammelt sich in der Schwemmebene unterhalb des Eises viel Schotter, Sand und Geröll. Ein Teil wird weiter talauswärts transportiert. "Das sind sehr dynamische Prozesse. Jedes Mal, wenn wir hier oben sind, sieht das Gletschervorfeld anders aus", sagt Hiller. "Mit der Drohne können wir diese Veränderungen kartieren und vergleichen."

Drohne über dem Jamtalferner
Viele Entwicklungen im Gebiet des Gletschers lassen sich am besten aus der Luft erkennen und kartieren.
Alois Pumhösel

Felssturz und Vermurung

Die Auswertungen sollen dazu beitragen, die Sedimenttransporte künftig besser modellierbar zu machen. Die Forschungen sind auch für die Energiegewinnung interessant. Denn weiter unten im Tal wird Wasser aus dem Jambach abgezweigt. Hiller: "Kommt viel Sediment mit dem Bach ins Tal, muss bei der Wasserfassung des Kraftwerks viel gebaggert werden. Es ist also auch wirtschaftlich interessant, wie sich der Transport künftig verändert."

Um die Frage, wie viel Schutt wohin bewegt wird, zu beantworten, ist auch die Verteilung der verschiedenen Gesteinsgrößen im Sediment interessant. Diese sogenannte Korngröße wird bestimmt, indem Schnüre gespannt und Steine darunter vermessen werden. Sebastian Leistner will diese Arbeit automatisieren und sucht Wege, die Verteilungsdaten aus den Drohnenbildern zu extrahieren. "Talauswärts gibt es höhere Anteile von feineren Gesteinsfraktionen. Gleichzeitig bildet sich im Bach eine Deckschicht, wobei es abhängig von der Korngröße ist, wie robust diese Schicht ist und wie leicht Material wieder herausgewaschen werden kann", sagt Leistner, der mit seiner Forschung zur Sedimentmodellierung beitragen möchte.

Kaskadeneffekte

Das Wasser, das nun seltener in Form von Eis oder Schnee und öfter als eine talwärts tosende Kraft in Erscheinung tritt, wird zum Vermittler, der Ereignisse im hochalpinen Raum auch für die Menschen in den Siedlungsräumen weiter unten relevant macht. "Es kann zu Kaskadeneffekten kommen, bei denen eine Folge von Prozessen die Auswirkungen eines einzelnen Events am Berg talwärts trägt", erklärt Helfricht.

Die Schmelze der Gletscher führt etwa zur Bildung von Gletscherseen. Das Schwinden des Gletschereises begünstigt gemeinsam mit dem Rückgang des Permafrosts zudem Felsstürze. Landen diese im See, kann es zu einem zusätzlichen Wasserschwall kommen, der weiter talwärts zu Vermurungen führt. Zumindest in einem kleineren Ausmaß führte der Bergsturz am Fluchthorn oberhalb der Jamtalhütte, der im Juni 2023 durch die Medien ging, eine solche Prozesskette vor Augen, betont Helfricht. "Das Gestein verlegte auch den Wasserabfluss auf eine hochgelegene Geländestufe. Innerhalb kurzer Zeit bildete sich dort nach dem Felssturz ein flacher See, der sich mit einem Durchbruch auch plötzlich wieder hätte entleeren können", schildert der Gebirgsforscher. Die Forschenden konnten im Jambach eine Abflussspitze messen, der zwei Stunden mit fast keinem Abfluss folgten – das war jener Zeitabschnitt, in dem sich der See bildete. Zu einem tatsächlichen Ausbruch kam es aber nicht.

Jeder Gletscher ein Unikat

Generell scheint die Zahl von Fels- und Eisstürzen zuzunehmen. 2022 ereignete sich etwa an der Marmolata in den Südtiroler Dolomiten ein katastrophaler Gletscherabbruch. Elf Bergsteiger starben damals. Heiße Tage hatten für viel Schmelzwasser gesorgt, das die Eislawine wohl auslöste. Auch wenn man solche Ereignisse kaum genau vorhersagen könne, sei es wichtig, die lokalen Besonderheiten der Gletscher zu verstehen, betont Helfricht. Im Fall des Jamtalferners wird das Zerbrechen der Eismassen die Schmelze wohl beschleunigen. Werden Eismassen unter Gestein vergraben, hat das dagegen einen konservierenden Effekt.

"Die Systeme sind sehr feinfühlig. Wie der Übergang zu einem eisfreien Gebirgsraum aussieht, ist stark vom lokalen Klima abhängig", erklärt der Gebirgsforscher. Der Jamtalferner ist mittlerweile aber so stark aus dem Gleichgewicht, dass in wenigen Jahrzehnten wohl kaum noch nennenswerte – und nicht von Fels verschüttete – Eiskörper übrig sein werden. (Alois Pumhösel, 21.10.2023)