Autokraten
Führerdemokratien existieren unter anderem in der Türkei, Russland, Indien, Israel und Ungarn.
Collage: derStandard/Friesenbichler Fotos: Imago (2), EPA (2), Reuters (2), AP, APA

Oscar Bronner gründete 1988 den STANDARD unter anderem deshalb, weil in Österreichs politmedialer Landschaft eine liberale Stimme fehlte. In dem Sinn war Österreich eine "defizitäre Demokratie".

Die Situation heute ist anders und doch ähnlich. Es gibt heute Kräfte, in Österreich und auf der Welt, die "ein anderes System" wollen. Etwas, das einer Demokratie ähnlich sieht, aber keine ist. Ein autoritäres System. In dem zwar gewählt wird, aber die demokratische Korrektur ausgeschaltet ist. Wo es einen "starken Führer” gibt, „der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss". Das heißt, es finden schon Wahlen statt, und der "starke Führer" hat oft sogar relativ große Zustimmung beim Volk. Aber es besteht kaum eine Chance mehr auf einen demokra­tischen Wechsel.

"Führerdemokratien"

Solche Führerdemokratien existieren bereits in der Türkei mit Recep Tayyip Erdoğan, in Russland mit Wladimir Putin, in Indien mit dem Hindu-Nationalpopulisten Narendra Modi, in Israel mit Benjamin Netanjahu. Donald Trump möchte in seiner zweiten ­Amtszeit gerne eine solche errichten. In Europa ist Ungarns ­Ministerpräsident Viktor Orbán beim Abwürgen demokratischer Kontrolle schon viel weiter (er hat übrigens dafür den Begriff "illiberale Demokratie" er­funden). In Italien hat Georgia Meloni Pläne für einen Verfassungsumbau in Richtung eines dominanten Präsidentenamts.

In Österreich hat Herbert Kickl, mit seiner FPÖ seit fast einem Jahr stärkste Partei in den Umfragen, Ähnliches vor. Er will ein "Volkskanzler" sein. Das bedeutet: nicht ein jovialer Babyküsser, sondern ein autoritärer Herrscher, der seine Macht aus dem ­„wahren Volk“ bezieht. In Deutschland ist die rechtsextreme bis neonazistische AfD bereits zweitstärkste Partei. In Polen hingegen, das seit Jahren auf einem Weg zur illiberalen Demokratie war, zeigt sich nun, dass man das aufhalten kann.

Welche Demokratie?

Echte Demokratie ist nie nur ­reine Mehrheitsdiktatur, sondern gleichzeitig immer auch Schutz der Minderheit(en). Dieser Schutz wird durch funktionierende Kon­trollinstitutionen gewährleistet: Individuelle Menschenrechte und Bürgerrechte sind einklagbar, und eine starke Opposition, Justiz, ­Medienlandschaft, Zivilgesellschaft und ein funktionierender Parlamentarismus achten auf die Einhaltung. Die liberale Demokratie schützt den Einzelnen vor einer Tyrannei der Mehrheit. Der Harvard-Politologe Yascha Mounk sagt: "Demokratie meint die Mechanismen, den Willen des Volkes in Politik umzusetzen." Aber es gibt etwas über den bloßen Mechanismus hinaus: "Was unser System (das des Westens, Anm.) attraktiv macht, ist, dass es gleichzeitig liberal ist, die Rechte des Einzelnen respektiert."

Das ist die "liberale Demokratie". Sie setzt auf Mäßigung, Weltöffnung, Toleranz, Pluralismus, auch wenn es mühsam wird. Die "illiberale Demokratie" hingegen arbeitet mit Hass, ist nationalistisch, antipluralistisch, völkisch, antieuropäisch. Sie braucht Feinde. Orbán braucht George Soros, Putin den ­„verderbten Westen“, Kickl früher die "Ausländer", jetzt die "selbsternannten Eliten". Und "das System": Seine Rhetorik wimmelt vor Begriffen wie "Systemkanzler", "Systemparteien", "Systempresse". Purer NS-Jargon, übrigens.

19 Prozent für "starken Führer"

Bisher konnte Österreich mit Ein­schränkungen als liberale Demokratie gelten. Aber es gibt starke Anzeichen für eine breitere Unzufriedenheit mit dem System. In einer Umfrage des Market-Instituts im Auftrag des STANDARD von Anfang Oktober sagten immerhin 41 Prozent, es sollte eine "grundlegende Änderung des bestehenden politischen Systems" geben. Bei FPÖ-Wählern waren es 59 Prozent. Und bei Nichtwählern 55 Prozent.

Laut dem Demokratie-Monitor des renommierten Sora-Instituts dachten Ende 2022 nur 34 Prozent, dass das "politische System in ­Österreich gut funktioniert" (2018 waren es noch 64 Prozent). Fast 90 Prozent halten die Demokratie allerdings immer noch für die richtige Staatsform.

Die Gefahr ist, dass dieses "irgendwas ­anderes" von geschickten undemokratischen Politikern in ein Instrument für eine Aushöhlung der Demokratie verwandelt wird. Geradezu eine Verlockung für einen, der schleichend einen Verfassungsputsch, also eine "grundlegende Änderung des bestehenden Systems", durchziehen möchte.

Das geht nicht? In Ungarn hat es funktioniert, in Polen fast. Der deutsche "Verfassungsblog" skizziert, wie das in der Bundesrepublik gehen könnte. Und der frühere Präsident des Verwaltungsgerichtshofs, Clemens Jabloner, warnte schon vor Jahren davor, dass der ­Bundespräsident mit seinen Befugnissen in vier Schritten einen genehmen Kanzler / eine genehme Regierung einsetzen könnte.

Sora stellt seit Jahren die Frage, ob es einen "starken Führer" geben sollte, "der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss". Frisch aus der Auswertung: 19 Prozent stimmten heuer zu. 2022 waren es noch 26 Prozent. Der Wert pendelt seit fünf Jahren um die 20 Prozent. Heißt das, nicht wenige halten es mit der Demokratie vereinbar, einen De-facto-Diktator zu haben?

Wie sind wir so weit gekommen?

Es liegt, vereinfacht gesagt, am generellen Gefühl, dass vieles aus dem Ruder läuft – und die Regierenden damit nicht klarkommen. Der österreichische Historiker Oliver Rathkolb verweist auf die Parallelen zu den 30er-Jahren: "Alle Umfragen in Europa zeigen, dass jene Menschen, die von sozialen Krisen betroffen sind bzw. diese fürchten, einen starken Vertrauensverlust aufweisen und ihr Heil in einem starken Führer suchen – ähnlich wie in der Zwischenkriegszeit." Aber da ist noch eine gewisse Anfälligkeit der Österreicher. Das Sora-Institut in einer Studie vom Juni 2023: "Zwar sind nur zwei von 100 Menschen eindeutig rechtsextrem eingestellt, jedoch kann rund ein Viertel diesbezüglichen Aus­sagen teilweise etwas abgewinnen."

Was tun? Es gibt drei Ansatzmöglichkeiten: Herumbasteln an Institutionen. Selbstbesinnung der Politik. Und Selbstermächtigung der liberalen demokratischen Bürger.

In der Diskussion taucht oft auf: Mehr direkte Demokratie! Mehr Volksbefragungen bzw. Volksabstimmungen. Populisten finden das großartig. Politologen sagen: Das erhöht die Gefahr populistischer Dauerkam­pagnen. Reformgruppen wie das "Antikorruptionsvolksbegehren" (308.000 Unterschriften 2022) wollen an den Schrauben des Staats­apparats drehen. Aber was kann das Individuum tun?

Vor allem: wachsam sein. Nicht naiv sein. "Rechne damit, dass jemand die Demokratie abschaffen will", schreibt der amerikanische Historiker Timothy Snyder in seinem Band Über Tyrannei: "Der Fehler besteht darin, ­anzunehmen, dass Herrscher, die durch In­stitutionen an die Macht kamen, genau diese Institutionen nicht verändern oder zerstören können – obwohl sie genau das angekündigt haben." Snyder hat auch "20 Lektionen für den Widerstand" parat. Darunter: "Gehorche nicht im Vorhinein." "Verteidige Institutionen." "Achte auf gefährliche Worte."

Und die Politik? Sie müsse sich dazu aufraffen, sagt Oliver Rathkolb, "die zentralen Ängste und Sorgen der Menschen nicht nur anzusprechen, sondern konkrete Lösungen zu diskutieren und umzusetzen".

Die Rettung der Demokratie

Der Sozial- und Politikforscher Christoph Hofinger hat für den STANDARD "Drei Ge­danken zur Rettung unserer Demokratie" ­entwickelt:

Das wird die große Grundfrage der Politik: Muss man für die Hunderttausenden, die hier geboren sind und/oder dauerhaft hier leben, die Staatsbürgerschaft forcieren?

Aber zuletzt kommt es auf die engagierten Bürgerinnen und Bürger an. Es gibt zig Initiativen der Zivilgesellschaft, denen man sich anschließen kann – wie zuletzt erfolgreich bei der ersten Wahl von Bundespräsident Van der Bellen. Bewusste, informierte Bürger können dabei die Avantgarde übernehmen, auch als Gegengiftbewegung zu jenen, die in Richtung autoritäres Denken abdriften. Schlicht formuliert: ohne aktive Demokraten keine Demokratie. Der ungarische Schriftsteller Péter Nádas sagte es kürzlich im STANDARD-Interview: "Wenn Demokratie nicht funktioniert, dann verdanken wir das nicht Rassisten oder Faschisten, sondern den Demokraten – uns selbst. Wenn Demokratie nicht stimmt, dann gibt es nicht genug Demokraten." (Hans Rauscher, 19.10.2023)