In der letzten Zeit wurde die Weltöffentlichkeit von furchtbaren Entwicklungen überrascht, obwohl sie absehbar waren. Immer wieder glauben wir, Konflikte einfrieren zu können, um sie einer späteren Lösung zuzuführen. Allerdings, kaum sind sie eingefroren, wird auf Lösungsanstrengungen vergessen, oder sie werden nur halbherzig verfolgt. Und dann wundern sich Politiker:innen und Medien, dass die Konflikte von damals wieder ausbrechen. Das Ausmaß des neuerlichen Gewaltausbruchs in Israel und Palästina kommt jedoch überraschend.

Israel und Palästina

Die jüngsten Angriffe der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung waren besonders grausam und verabscheuungswürdig. Die Hamas zeigte durch diesen Angriff ihr terroristisches und zynisches Gesicht. Und dennoch war nicht die Tatsache, dass die Hamas – wieder einmal – Raketen nach Israel abschickte, überraschend, sondern die Grausamkeit, mit der sie auch gegen die Zivilbevölkerung vorging. Wie konnte es dazu kommen?

Raketen der Hamas
Dass Raketen von der Hamas abgefeuert wurden, war nicht das Überraschende, sondern die Gewalt gegen die Zivilbevölkerung, die immer mehr ans Tageslicht gerät.
AFP/SAID KHATIB

Ich erinnere mich noch gut an ein Gespräch mit Dave Weissglass, dem Bürochef und Sicherheitsberater von Premierminister Sharon, als dieser den Abzug israelischer Siedler:innen aus dem Gazastreifen vorbereitete. Auf das Argument, dass ein einseitiger Abzug ohne Verhandlungen mit politischen Vertretern keine Lösung bringen würde, entgegnete er, die Europäer sollten sich nicht einmischen, wenn Israel genau das tue, was Europa immer wollte, nämlich die Siedlungsgebiete in Gaza zu räumen. Aber es hat sich seit der Räumung 2005 gezeigt, dass einseitige Maßnahmen ohne Gespräche mit und Anerkennung von palästinensischen Vertretern keine Lösung bringen.

Die Rolle von Netanjahu

Viele israelische Autor:innen verwiesen in den letzten Tagen mit Recht auf die Schwächung der israelischen Abwehrbereitschaft durch die nationalistische und reaktionäre Politik insbesondere durch Premierminister Netanjahu. So meint der Bekannteste unter ihnen, David Grossman, dass durch Netanjahu das Land "zugunsten engstirniger Interessen, zugunsten einer zynischen, schlafwandlerischen unvernünftigen Politik" preisgegeben wurde. Und Yishai Sarid meint: "Netanjahu trägt die Schuld dafür, dass unsere Gesellschaft so tief gespalten ist. Das hat uns geschwächt. Sie haben uns unvorbereitet erwischt. Viele Israelis mussten deshalb sterben."

Und dann erwähnt Sarid etwas, auf das Thomas L. Friedman in der New York Times verwies und das ich selbst immer wieder feststellen konnte: "Netanjahu hat seit Jahren lieber Deals mit der Hamas gemacht als mit der viel moderateren Palästinensischen Autonomiebehörde." Und Friedman weist zu Recht darauf hin, dass die Palästinensische Autonomiebehörde zwar benutzt wurde, um mit den Sicherheitsbehörden Israels zusammenarbeiten, aber immer wieder von israelischer Seite diskreditiert wurde. Nun stimmt es, dass die Führung dieser Behörde überaltert ist und selbst immer weniger von den jungen Palästinenser:innen akzeptiert und respektiert wird. Aber dies hängt auch mit der Diskreditierung und Schwächung vor allem durch Netanjahu – und auch etliche seiner Vorgänger – zusammen. Und so blieb Gaza, wie es ein anderer israelischer Schriftsteller, Ron Segal, dieser Tage definierte "das größte Gefängnis unter freiem Himmel im Nahen Osten, eine Brutstätte des Terrorismus".

Was kann das Militär erreichen?

Dies ändert nichts an dem völlig inakzeptablen und menschenverachtenden Angriff auf Israels Bevölkerung. Und ich stimme dem amerikanischen Außenminister zu, wenn er Israel nicht nur das Recht auf eine starke militärische Reaktion zubilligt, sondern auch von einer Pflicht dazu spricht. Und dennoch haben jene recht, die wie Thomas L. Friedman meinen, Israel müsse gerade jetzt "smart" vorgehen und dürfe nicht in die Falle der Hamas tappen.

Es sollte eben nicht das tun, was der Hamas zu weiteren Sympathien bei den Palästinenser:innen verhelfen würde. So schwierig es für Israel ist, einen solchen Weg zu gehen, so notwendig wäre es für Israel, sich "auf eine Lösung zu konzentrieren statt auf Rache", wie Ron Segal fordert. Wie die militärischen Interventionen in Afghanistan und dem Irak gezeigt haben, sind sie alleine nicht fähig, politische Konflikte zu lösen. Überdies sind diese militärischen Aktionen langwierig und meist mit vielen zivilen Opfern verbunden. Politische Lösungen müssen parallel zu militärischen entwickelt werden und zunehmend an Bedeutung gewinnen.

Sicher ist auch schon in der Vergangenheit einiges versucht worden. Der letzte Hoffnungsschimmer war nach den Gesprächen zwischen Ehud Barak und Yassir Arafat 2000 am politischen Himmel erschienen. Aber da war es Arafat, der nicht den Mut aufbrachte, dem Abkommen zuzustimmen. Mein Eindruck nach meinen Treffen mit ihm war, dass er nicht die staatsmännische Statur aufbrachte, um einen Kompromiss einzugehen, der allerdings sehr schmerzhaft gewesen wäre. Schmerzhaft aus der Sicht der Palästinenser vor allem deshalb, weil das Abkommen einen Verzicht auf Jerusalem als Hauptstadt Palästinas bedeutet hätte! Und als ich Barak auf einem Treffen der Sozialistischen Internationale nach neuen Initiativen fragte, antwortete er nur resigniert und frustriert, dass er in Arafat keinen verantwortungsvollen Partner sieht. Seither gab es keine ernsthaften Versuche, zu einem Frieden zu kommen. Im Gegenteil, die Ausdehnung der israelischen Siedlungen schränkte die Möglichkeiten einer Zweistaatenlösung immer mehr ein.

Nichts könnten sich die friedliebenden Kräfte im Nahen Osten – und darüber hinaus – mehr wünschen als einen vernichtenden Schlag gegen die Hamas. Es wäre auch eine Niederlage der aggressiven Kräfte im Iran und der Hisbollah im Libanon. Aber damit sind die Probleme der Bevölkerung in Gaza noch nicht gelöst und das Heranwachsen neuer militärischer Kräfte noch nicht verhindert. Es muss ein Weg gefunden werden, wie eine "Regierung" in Gaza installiert werden kann, die sowohl das Vertrauen der Bevölkerung als auch in Israel einen Partner für Friedensgespräche hat.

In den letzten Tagen wurde diesbezüglich auch überlegt, Ägypten und Saudi-Arabien dazu zu bewegen, eine Mitverantwortung für eine neue Regierung im Gazastreifen zu übernehmen. Natürlich müsste eine solche "Regierung" eng mit der Palästinensischen Autonomiebehörde zusammenarbeiten, soweit diese nicht ohnedies eine Gesamtverantwortung übernehmen kann. Voraussetzung ist aber immer eine israelische Regierung, die auch ihrer Verantwortung und ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen gerecht wird.

Und der Westen?

Man kann dem Westen nicht vorwerfen, dass er sich überhaupt nicht um eine Lösung des Konflikts bemüht hat. Die USA haben meist sehr zurückhaltend reagiert, obwohl auch die jüdische Gemeinde in den USA zunehmend unzufrieden mit Netanjahu wurde. Und Israel zieht immer noch die USA gegenüber Europa als Gesprächspartner vor. Der über Jahrhunderte entwickelte christliche Antisemitismus sowie viele Pogrome im Laufe der europäischen Geschichte und natürlich der Holocaust sind Gründe dafür, dass der Einfluss Europas auf die israelische Politik nie groß war.

Die Bevorzugung der USA durch Israel hat letztendlich auch die Palästinenser:innen – vertreten durch die Autonomiebehörde – dazu veranlasst, auf die Karte der USA zu setzen, jedenfalls bis Donald Trump auf der politischen Bühne erschien. Dieser vertrat eine Politik, die darauf abzielte, die Beziehungen der arabischen Länder zu Israel zu verbessern – ohne die Interessen der Palästinenser:innen zu berücksichtigen. Diese Verbesserungen und die angekündigte Aufnahme von Beziehungen zwischen Israel und Saudi-Arabien haben vielleicht sogar die Vorbereitungen der Hamas zu ihrem terroristischen Anschlag noch beschleunigt. So kann der Anschlag der Hamas auch als Sieg über die zögerliche und unzureichende Nahostpolitik des Westens interpretiert werden. Auch daraus sollte zumindest Europa lernen. Die immer wieder vom offiziellen Israel vorgebrachte Meinung, dass der Palästina-Konflikt an Bedeutung verloren habe, hat sich jedenfalls als Trugschluss erwiesen – leider.

Besteht Hoffnung auf einen Weg zum Frieden? Die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev meinte dazu: "Ich bete darum, dass sich bei Kriegsende die einzige Teilung abzeichnet, die in dieser Region möglich ist, keine Teilung zwischen Arabern und Juden, sondern zwischen Moderaten und Extremen, zwischen Pragmatikern und Fanatikern. Hoffentlich gelingt ein Zusammenleben all derer, die das Leben wählen und deswegen einen Kompromiss anstreben. Das scheint noch in weiter Ferne zu liegen, aber womit sonst wollen wir uns trösten?" Leider sind es allzu viele Krisen, für die wir diese Hoffnung haben müssen. (Hannes Swoboda, 20.10.2023)