Dirk von Lowtzow erlebte die 1990er als eher bleierne Zeit, nur mit seiner Band Tocotronic empfand er Euphorie.
Dirk von Lowtzow erlebte die 1990er als eher bleierne Zeit, nur mit seiner Band Tocotronic empfand er Euphorie.
Fabian Sommer / dpa / picturedes

Begonnen haben Tocotronic vor 30 Jahren als eine Art rockende Altkleidersammlung. Sie gelten als Mitbegründer der Hamburger Schule, eine Zuschreibung aus den 1990ern für Hamburger Bands mit geistvollen Texten. Die Gruppe zählt zu den bedeutendsten deutschen Bands, die charakteristischen Achselzwicker-T-Shirts der frühen Tage sind Hemd und Sakko gewichen.

STANDARD: Ihr aktuelles Album heißt "Nie wieder Krieg", leider hört die Welt nicht auf Sie.

von Lowtzow: Wahrscheinlich ist unser Einfluss auf die Weltpolitik begrenzter, als wir gedacht haben. Doch schon als das Album geschrieben wurde, bedurfte es keiner großen diagnostischen Kunst, um die Symptome zu erkennen. Bei der Ukraine hat dieser kriegsähnliche Zustand ja 2014 begonnen, und wir haben alle nur unsere Augen verschlossen. Damit wurden wir ein Teil des Problems.

STANDARD: Deshalb der Albumtitel?

von Lowtzow: Ja, doch auch innergesellschaftlich gab es Tendenzen. Diese Feindschaft aller gegen alle, die zu einer Art von neuem Gemeinschaftssinn wurde, das ließ eine gewisse vorkriegsartige Situation erspüren.

STANDARD: Bei weltgeschichtlichen Ereignissen werden Kunstschaffende gerne um ihre Meinung gebeten. Wie gehen Sie damit um?

von Lowtzow: Ich bin davon überzeugt, dass es in freiheitlichen Gesellschaften keinen Bekenntniszwang geben soll. Nichtsdestotrotz äußern wir uns immer wieder, etwa zu Fragen der Abschottung Europas vor Fluchtbewegungen oder dem brutalen Überfall auf die Ukraine. Das klingt jetzt kitschig, aber man muss das aus dem Herzen kommend machen.

STANDARD: Kollege Sven Regener sagt, tendenziell Klappe halten und die Politiker machen lassen, das sei deren Job.

von Lowtzow: Dem kann ich mich nicht ganz anschließen. Das ist eine etwas unpolitische Haltung, und die ist ein bisschen luxuriös in der heutigen Zeit. Aber ich weiß, was er meint. Abgesehen davon, dass so manche Politiker und Politikerinnen auch nicht die allergeeignetsten Personen für ihren Job sind, finde ich nur, dass man damit seine Verantwortung wegschiebt. Ich glaube, dass man als Künstler Verantwortung übernehmen sollte. Ich möchte nur nicht dazu genötigt werden, immer und überall meinen Senf dazuzugeben, das finde ich in jeder Richtung aufdringlich, und ich erschlaffe dann innerlich aus Trotz.

STANDARD: Tocotronic bestehen seit 1993. Das war eine euphorische Zeit nach großen Umbrüchen wie dem Mauerfall. Wie gehen Sie damit um, dass sich so vieles gerade verschlechtert?

von Lowtzow: So ganz würde ich diese Diagnose nicht teilen. Ich habe diese Zeit auch als sehr bleiern empfunden. Vieles von dem, was wir da als Frust herausgenölt haben, kam aus dieser bleiernen Helmut-Kohl-Zeit. Natürlich gab es Umbrüche. Aber es war auch eine gespenstische Zeit. Es gab die pogromartigen Überfälle in Rostock und Hoyerswerda und Solingen. Es gab diese "Das Boot ist voll"-Polemik und mit dem sogenannten Asylkompromiss einen der größten Sündenfälle der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik.

STANDARD: Aber verspürten Sie als frisch zusammengekommene Band so etwas wie Euphorie?

von Lowtzow: Ja, wir waren eine frisch verliebte Ménage à trois. Wie man im Englischen sagt: "to fall in love". Wir sind ineinandergefallen. Und für diese Art von Indiemusik war es eine gute Zeit. In Hamburg gab es viele unabhängige Plattenfirmen. Das ergab insgesamt ein sehr großes Versprechen, das aber Mitte der Nullerjahre zum Teil wieder erstarb.

STANDARD: Musikalisch hatten Tocotronic US-Bands als Vorbilder. Stehen von denen bei Ihnen noch ein paar als ewige Säulenheilige herum?

von Lowtzow: Wir waren beeinflusst von Low-Fi-Bands wie Guided By Voices, Smog oder den Palace Brothers. Wir hatten das Gefühl, da könne man andocken. So wurden wir am Anfang auch wahrgenommen, als Antwort auf US-amerikanische Low-Fi-Bands.

STANDARD: Diese Musik hielt einen heiteren Dilettantismus hoch.

von Lowtzow: Ja, die Bands haben ihre Unzulänglichkeit in den Songs mitreferiert. Ich denke da an "A Hit" von Smog, in dem er singt "It's not going to be a hit / So why even bother with it?". Das hat uns total begeistert.

STANDARD: Ihr Image hat sich im Laufe der Zeit gewandelt: von nerdigen Secondhand-Outfits hin zu staatstragenden Anzügen ...

von Lowtzow: ... ich muss das korrigieren, wir tragen keine Anzüge. Es gibt ein Foto von mir mit einem Secondhand-Polyesteranzug, das war der einzige, den ich je hatte. Ich trage gerne Sakkos, aber Anzüge besitze ich keine.

STANDARD: Immer noch voll street.

von Lowtzow: Na ja, street waren wir nie. Es kursiert überhaupt ein falsch verstandenes, allzu authentisches Bild von Rockmusik. Wahrscheinlich haben selbst Bands wie Motörhead einen hohen artifiziellen Anteil. Das ist vielleicht sogar die größte Kunstband aller Zeiten. Um street zu sein, waren wir zu sehr an gebrochenen Pop-Codes und modisch-verqueren Kleidungsstilen interessiert.

STANDARD: Sind Sie rückblickend die Band geworden, die Sie sich einst imaginiert haben?

von Lowtzow: Wir sind sehr konstant und treu in unserem Tun. Wir sind da wie ein gastronomischer Familienbetrieb. Da ist viel Kontinuität, aber man weiß nie, was passiert, man lässt sich überraschen. Entgegen unseren Verlautbarungen in einem Lied auf einer frühen Platte gab es nie einen Masterplan.

STANDARD: Gibt es Songs, die Ihnen heute peinlich sind, bei denen Sie rote Ohren kriegen?

von Lowtzow: Die gab es lange Zeit, zum Beispiel Michael Ende, du hast mein Leben zerstört. Aber wir haben ein paar retrospektive Konzerte gespielt, und da haben wir viele alte Songs ausgegraben: Gerade Stücke, bei denen wir roten Ohren gekriegt haben, erwiesen sich oft als Garant dafür, dass sie ganz gut sind. Ich war überrascht, wie viel Schönheit in dieser Peinlichkeit liegt.

STANDARD: Erlaubt man sich nach 30 Jahren so etwas wie Stolz?

von Lowtzow: Nicht Stolz, sondern Glück, dass man sich gefunden hat und 30 Jahre in der Originalbesetzung zusammengeblieben ist – plus einen Menschen dazugewonnen hat, der jetzt auch schon wieder 20 Jahre bei uns ist. Das sagt vielleicht etwas über unsere soziale Kompetenz aus. Aber ich bin immer noch sehr zweiflerisch. Nicht umsonst gibt es von uns das Lied Im Zweifel für den Zweifel. (Karl Fluch, 9.11.2023)