Eva Sangiorgi Viennale
Eva Sangiorgi liebt beides: Filmgeschichte und aktuelles Kino. Ihr Vertrag läuft bis 2026.
APA/EVA MANHART

Seit 2018 verantwortet die Italienerin Eva Sangiorgi die Viennale, das nicht nur größte Filmfestival Österreichs, sondern neben dem Filmfestival in Toronto eines der renommiertesten Publikumsfestivals weltweit. Ein Gespräch mit der Festivaldirektorin über ihre kuratorische Handschrift.

STANDARD: Sie leiten heuer zum sechsten Mal die Viennale. Haben Sie eine Vision?

Sangiorgi: Ich glaube an die Viennale, die ein sehr besonderes Filmfestival ist. Sie ist relativ frei und widmet sich einer speziellen kinematografischen Kultur, ohne Kompromisse. Das liegt daran, dass es nicht darum geht, Premieren zu sichern oder Industry-Events zu organisieren. Ich wollte die Viennale so belassen, wie sie ist, und sie nicht aus einem narzisstischen Impuls heraus zu einem Spektakel machen. Das passt nicht zu ihr.

STANDARD: Was möchten Sie erreichen?

Sangiorgi: Ich möchte viele Leute ins Kino und in Kontakt mit einer großen Bandbreite kinematografischer Ideen bringen.

STANDARD: Im Vergleich mit den Besuchszahlen Ihres Vorgängers Hans Hurch schneiden Ihre etwas schlechter ab. Wie erklären Sie sich das?

Sangiorgi: Das Besucherinteresse geht bei Festivals allgemein zurück. Das ist erschreckend. Ein wichtiges Ziel ist also, die Treue des Publikums zurückzugewinnen. Dennoch bin ich mit einer Auslastung von über 70 Prozent zufrieden, gerade wenn man an die drei Jahre Pandemie zurückdenkt.

STANDARD: Welche Ideen haben Sie, um neues Publikum zu erschließen?

Sangiorgi: Wir arbeiten mit Schulen. Das ist eine besondere Erfahrung, denn Kinder und Jugendliche sind eine solche Art des Kinos nicht gewöhnt. Das Feedback ist immer außergewöhnlich, auch für die Regisseure und Regisseurinnen ist das eine großartige Erfahrung. Das möchte ich weiterverfolgen.

STANDARD: Welche Art des Kinos meinen Sie?

Sangiorgi: Ich meine Filme, die nicht banal sind. Es geht nicht darum, ob ein Film intellektuell ausgefeilt oder sehr einfach ist, es geht darum, wie er audiovisuell konstruiert ist. Das heißt auch nicht, dass er originell, neu oder innovativ sein muss. Es geht bei der Viennale aber nur teilweise ums Entdecken neuer Talente, man kann diese Einfachheit und Poesie auch in der Filmgeschichte finden.

Radu Judes "DO NOT EXPECT TOO MUCH FROM THE END OF THE WORLD" ist einer der Lieblingsfilme der Viennale-Direktorin.
VIFF

STANDARD: Sie zeigen viele Retrospektiven. Wie wichtig ist Filmgeschichte für Sie?

Sangiorgi: Mir wird sie immer wichtiger. Ich versuche, neu restaurierte Filme zu zeigen, weil auch das ein Aspekt der Filmwirtschaft ist. Es geht dabei immer um die Verbindung zur Geschichte. Das finde ich faszinierend.

STANDARD: Zurück in die Gegenwart. Letztes Jahr luden Sie Ulrich Seidls "Sparta" ein, dieses Jahr zeigen Sie Woody Allens "Coup de Chance". Welche Haltung haben Sie gegenüber Filmemachern, die in Kontroversen verwickelt waren?

Sangiorgi: Das sind zwei sehr verschiedene Fälle. Hinsichtlich Ulrich Seidls Sparta fühlte ich mich nicht berechtigt, den Film zu blockieren, bis sich die Vorwürfe geklärt hatten. Legal gesehen waren diese nicht explizit genug.

STANDARD: Hätte die Viennale nicht eine Plattform bieten können, um über die Vorwürfe und den Umgang damit zu diskutieren?

Sangiorgi: Glauben Sie, dass ein Festival den Platz einnehmen sollte, den legale Institutionen haben sollten? Das ist eine sehr delikate Angelegenheit. Wir scheinen in einer Welt zu leben, in der die sozialen Medien den demokratischen Diskurs bestimmen. Nur treffen dabei dann oft gefährliche Beschuldigungen auf der einen Seite auf das Abtun jeglicher Vorwürfe als Auswüchse der politischen Korrektheit auf der anderen Seite.

STANDARD: Und Woody Allen?

Sangiorgi: Woody Allen ist ein freier Mann. Coup de Chance ist eine einfache Komödie eines gereiften Regisseurs, aber sehr unterhaltsam und mit großartiger Besetzung. Melvil Poupaud ist auch einer der zentralen Schauspieler in der Retrospektive über Raúl Riuz. Das ist eine schöne Verbindung. Die Absage an The Palace von Roman Polański ist uns allerdings nicht schwergefallen.

STANDARD: Gab es Filme, die Sie wollten, aber nicht bekommen haben?

Sangiorgi: Ja, einige. William Friedkins The Caine Mutiny Court-Martial etwa, aber Paramount scheint den Film, jetzt da der Regisseur nicht mehr am Leben ist, auf einer Plattform verräumen zu wollen. Besonders schade ist, dass wir den Cannes-Preisträger The Zone of Interest nicht bekommen haben. Wir wollten ihn unbedingt zeigen, nicht nur, weil er von Jonathan Glazer ist, sondern auch, weil er für Österreich historisch gesehen interessant ist.

STANDARD: Warum wurde daraus nichts?

Sangiorgi: In Österreich wurde der Kinostart auf März verschoben. Das ist für den Verleih Constantin eine zu lange Zeit zwischen der Österreich-Premiere und dem Kinostart. Zwar kam die Absage vom deutschen Partner Leonid, aber Constantin macht auch keinen Druck. Das deute ich als mangelndes Interesse. Wir bekommen fast nie Filme von Constantin. Wenn man versucht, eine gewisse Kinokultur aufrechtzuerhalten, ist das keine kluge Haltung.

La Bete Viennale
"La Bête" ist laut Sangiorgi ein brillanter Science-Fiction-Film.
Carole Beth

STANDARD: Letztes Jahr zeigten Sie viel afrikanisches Kino. Wieso dieses Jahr nicht?

Sangiorgi: Ja, das stimmt. Dieses Jahr gibt es mit Bushman einen Film von David Schickele, der sehr interessant ist. Schickele kam zwar aus Kalifornien, ist aber kein konventioneller Regisseur. Er war so fasziniert von der nigerianischen Kultur, dass er sich entschied, einige Jahre dort zu leben. Den Mangel am afrikanischen Kino versuche ich heuer mit ihm abzufedern.

STANDARD: Ihre persönlichen Höhepunkte des diesjährigen Programms?

Sangiorgi: Ich habe viele Lieblingsfilme … der Eröffnungsfilm Explanation for Everything etwa ist ein sehr kluger, tragikomischer Film über eine politische Eskalation in Ungarn, er könnte aber in vielen Ländern spielen. Auch Radu Judes Do Not Expect Too Much from the End of the World und Bertrand Bonellos großartiger Science-Fiction-Film La Bête . Da steckt so viel drin, die Intervention in DNA-Strukturen, wie westliche Gesellschaften sich vor Schmerz schützen ... Er ist brillant. (Valerie Dirk, 19.10.2023)