Wartende vor dem Flughafen in Toulouse.
Wartende vor dem Flughafen in Toulouse.
AFP/CHARLY TRIBALLEAU

Reisen wird in Frankreich zu einem Vabanquespiel: Bombendrohungen, Evakuierungen und andere Sperren häufen sich landesweit. Am Wochenende war schon Schloss Versailles inklusive Gartenanlage geräumt worden, gefolgt vom Louvre-Museum. Auch im Pariser Gare de Lyon, wo die TGV-Züge Richtung Süden starten, mussten Tausende wegen eines anonymen Telefonanrufs den Bahnhof verlassen.

Am Mittwoch wiederholte sich das Szenario in nicht weniger als sechs Flughäfen, darunter in Lille, Nantes, Toulouse oder der Nummer zwei in Frankreich, Nizza. Ob es eine konzertierte Aktion war, stand vorerst nicht fest. Zum Glück waren die Pariser Drehscheiben Roissy und Orly nicht betroffen – mit ihnen würde der Flugverkehr weit über Frankreich hinaus in Mitleidenschaft gezogen.

Antiterroreinheiten aufgestockt

Innenminister Gérald Darmanin redete nicht um den heißen Brei herum: Der Bezug zum Nahostkonflikt sei "offensichtlich", erklärte er, um seine Landsleute aufzufordern: "Wir müssen aufpassen." Die Regierung hat die Terrorwarnung auf die Höchststufe gehoben. Die 3.000 Antiterrorsoldaten, die im Rahmen des "Vigipirate"-Plans mit ihren Tarnanzügen und Gewehren seit Jahren durch die Innenstädte patrouillieren, werden auf 7.000 aufgestockt.

Die Polizei kann ferner Personen mit Arrest belegen, ohne zuerst eine richterliche Genehmigung einholen zu müssen. Zudem kann der Pariser Präfekt Demonstrationen verbieten. Letzteres hatte er schon am Samstag mit der Kundgebung "Free Palestine" erfolglos versucht. Jetzt würde ein Verbot zweifellos besser durchgesetzt.

Sollen all diese Notstandsregeln länger gelten, müsste sie das Parlament absegnen. Das war bisher nur in dramatischen Ausnahmefällen geschehen – beim Algerienkrieg von 1958, bei den Vorstadtkrawallen von 2005 oder den "Charlie Hebdo"- und Bataclan-Attentaten von 2015.

Appell von Macron

So weit ist es noch nicht. Wie besorgt die Exekutive und die Bevölkerung dennoch sind, zeigte sich schon vergangene Woche, als Präsident Emmanuel Macron einen eindringlichen Appell zugunsten der "nationalen Einheit" erließ. Die Millionen muslimischer Vorstadtbewohner überging oder vergaß er schlicht. Dass er nur die Rechte Israels nannte und keinen Unterschied zwischen Hamas und Palästinensern machte und erwähnte, wird ihm bis in seine Anhängerschaft hinein angekreidet.

Schon am Tag danach attackierte ein 20-jähriger Mann aus der autonomen Kaukasus-Republik Inguschetien (westlich von Tschetschenien) seine ehemalige Mittelschule in der nordfranzösischen Stadt Arras; er brachte einen Lehrer um und verletzte weitere Personen mit einem Messer, bevor er verhaftet werden konnte. Mit Schrecken erinnert sich Frankreich an die Enthauptung des Geschichtslehrers Samuel Paty vor drei Jahren im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine. Der nun getötete Lehrer Dominique Bernard, der wie Paty als weltoffen und wohlwollend galt, wird am Donnerstag in der Kathedrale von Arras im Beisein Macrons beigesetzt.

"Es wird weitere Attacken geben"

Damit kehrt in Frankreich aber nicht Frieden ein. Der Sicherheitsexperte Floran Vadillo warnt: "Es wird weitere Attentate dieser Art geben." Damit meinte er die sogenannten Lowcost-Jihadisten, die in Eigenregie und mit einem Küchenmesser handeln. Ihre Absicht ist fast nicht aufzudecken: Der Attentäter von Arras, Mohamed M., war noch am Vortag von der Polizei verhört worden, da er in der Radikalisiertenkartei auftauchte. Danach kam er wieder frei. Laut Vadillo bräuchte es 30.000 Ermittler, um sämtliche 17.000 Gefährder der "S"-Kartei zu überwachen. Das ist so unmöglich wie das daingesagte Versprechen Darmanins, er werde die Jihadisten des Landes verweisen.

Sorge bereitet den Behörden auch der Umstand, dass der Angreifer die Lage im Nahen Osten in seiner Bekennerbotschaft nicht einmal erwähnt hat. Bei der Attacke schrie er, "eure" Republik und "eure" Nationalfigur Marianne seien nicht die seinen – Ausdruck des bodenlosen Grabens zwischen den Banlieue-Zonen und dem übrigen Frankreich.

"Arabischer Antisemitismus"

Die hasserfüllte Litanei des Attentäters gegen Frankreich findet sich öfter, als man meinen würde, an den Vorstadtschulen um Paris oder Marseille. Wie auch den sogenannten arabische Antisemitismus. Zwei Drittel der Lehrer gaben laut einer Studie an, sie könnten mit Zwölfjährigen nicht mehr über die Shoa oder Israel diskutieren.

Auch der sehr französische Laizismus, mit dem das Kopftuchverbot in Schulen und Ämtern begründet wird, stößt in den Vorstädten auf erbitterte Ablehnung. Ein Echo finden solche Positionen bis nach Westafrika, wo Jugendliche in den Straßen antifranzösische Parolen gegen die Kolonialmacht skandieren. All diese Phänomene wecken bei den Franzosen derzeit das Gefühl, einem unsichtbaren Feind und einer sehr akuten Gefahr ausgesetzt zu sein. (Stefan Brändle aus Paris, 18.10.2023)