Karolina Wigura bei einer bei einer vom STANDARD mitveranstalteten Diskussion im Wiener Burgtheater.
Karolina Wigura im vergangenen Jahr bei einer vom STANDARD mitveranstalteten Diskussion im Wiener Burgtheater. Nach der Wahl vom Sonntag erwartet sie auch eine neue Dynamik in der Außenpolitik.
Robert Newald

Für Polens nationalkonservative Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jarosław Kaczyński war die Wahl am Sonntag eine herbe Enttäuschung – und das, obwohl sie klar auf Platz eins kam. Dass die Liberalen von Donald Tusk die besseren Karten für die Bildung einer Koalition haben, gilt auch als positives Signal Richtung Westen.

STANDARD: Die bisher regierende PiS dürfte trotz ihres Wahlsieges keine Regierung bilden können. Was sagt uns das über die Polarisierung im Land?

Wigura: Beide Seiten haben gewonnen und verloren: Die PiS hat erneut sehr gut abgeschnitten und liegt auf Platz eins, hat aber keine Mehrheit hinter sich. Die Opposition wiederum hat gute Chancen für eine Regierungsbildung, aber es gibt eine riesige Gruppe, die mit ihr nichts zu tun haben will. Die Polarisierung bleibt also stark, wir werden weiter mit ihr leben müssen.

STANDARD: Kann es nicht sein, dass die PiS sich in der Opposition abkühlt und bald weniger zugespitzte Verhältnisse herrschen?

Wigura: Das glaube ich nicht. Dieser Kampf ist nicht nur politisch. Es ist ein sehr persönlicher Kampf zwischen Jarosław Kaczyński und Donald Tusk um ihr politisches Erbe für Polen. Das ist eine fundamentale Sache. Wenn der Populismus einmal ins System eingebettet ist, können sich die Verhältnisse nicht so rasch normalisieren. Die Populisten können sich wieder an die Macht zurückdrängen, das sieht man derzeit auch in den USA ganz deutlich.

Für Polens Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Jarosław Kaczyński war die Wahl am Sonntag eine Niederlage.
REUTERS/KACPER PEMPEL

STANDARD: Die rechte PiS hat auch starke Akzente auf Sozialpolitik gelegt. Haben die Liberalen hier Nachholbedarf?

Wigura: Vielleicht hat die demokratische Opposition bei diesem Thema ja von der PiS gelernt. Aber vielleicht kommt auch eine Entwicklung zum Tragen, die mit der PiS nichts zu tun hat, nämlich ein allmählicher Abschied von der postkommunistischen Mentalität. Die Menschen in Polen können inzwischen anders über den Staat denken. Der war vor 1989 für viele ein Feindbild. Mittlerweile sehen sie: Der Staat kann auch ein Freund sein, er kann helfen.

STANDARD: Im Wahlkampf hat die PiS stark die polnische Souveränität betont und Tusk als Marionette Berlins und Brüssels beschimpft. Hat ihr dieser Isolationismus letztlich geschadet?

Wigura: Es gibt die historische Erfahrung des Isolationismus aus der Zwischenkriegszeit. Am Ende stand die Katastrophe. Viele haben Angst, dass wir immer wieder dieselben Fehler wiederholen, und sehen die PiS als Verkörperung dieses Fatalismus. Also ja, ich denke, das hatte Einfluss auf die Wahl. Aber man muss auch nur auf Polens geografische Lage schauen: Es ist offensichtlich, dass dieser Staat sich nicht isolieren kann. Das hat nicht nur mit kollektiven Emotionen zu tun, sondern auch mit Vernunft.

STANDARD: Polen stand seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine fest an der Seite Kiews und des Westens. Wie passt das zu diesem Isolationismus der PiS?

Wigura: In den vergangenen 20 Monaten hat Polen sein Image im Westen tatsächlich verbessert. Viele haben aber übersehen, dass Polen trotz allem ein tief illiberales Land blieb, etwa im Bereich der Rechtsstaatlichkeit. Mit einem Kollegen habe ich heuer im Juni einen Text darüber geschrieben, dass Polen nicht der Freund ist, den der Westen sieht. Er wurde in der New York Times veröffentlicht und löste heftige Reaktionen aus. In Polen wurden wir als Verräter beschimpft – von PiS-Politikern inklusive Regierungsmitgliedern und von Internet-Trollen.

STANDARD: Gegen Ende des Wahlkampfs hat Premier Mateusz Morawiecki dann tatsächlich eine Abkehr von der Unterstützung Kiews angedeutet.

Wigura: Hier hat man die wahre Natur des nationalen Populismus gesehen. Dieser ist prinzipiell egoistisch und isoliert sich gerne. Das Verhalten Polens ab Februar 2022 war im Vergleich dazu eine Anomalie: Die Angst vor Russland war anfangs so groß, dass sie diese Entwicklung begünstigt hat. Nach einer gewissen Zeit aber ließ sie nach, und plötzlich waren die Wähler wieder wichtiger als die Werte oder die Tatsache, dass die Ukraine sich im Krieg befindet.

STANDARD: Sie haben häufig auch den getrübten Blick des Westens nach Osteuropa kritisiert. Erkennen Sie da eine Veränderung?

Wigura: Der Westen hat zuletzt viel gelernt über den Putinismus sowie über die historischen Grundlagen der Furcht, die viele Ostmitteleuropäer vor Russland haben. Dieser Lernprozess muss weitergehen, das sollten auch Intellektuelle im Westen forcieren. Man muss verstehen, dass man mit Putin nicht verhandeln kann – genauso, wie man mit Hitler nicht verhandeln konnte. Vor allem Deutschland hat bezüglich seiner historischen Verantwortung etwa für den Holocaust viel geleistet, aber das historische Verständnis für die Okkupation osteuropäischer Länder durch das Dritte Reich und die Sowjetunion sowie für die dadurch entstandenen kollektiven Ängste ist weniger gut.

STANDARD: Was würde eine neue, liberale Regierung in Warschau für das Verhältnis zum Westen bedeuten?

Wigura: Im Westen müsste man dann verstehen, dass manche Meinungsverschiedenheiten nicht nur mit der populistischen Politik der PiS zu tun haben, sondern auch mit einer tief verwurzelten Stimmung in Mittel- und Osteuropa. Polen ist durch das Wahlergebnis nicht einfach "zurück", wie viele freudig sagen. Polen ist heute ein ganz anderes Land als 2015, als die PiS an die Regierung kam. Zum Beispiel der Umgang mit der Vergangenheit und das Verständnis von Russland werden die Beziehungen innerhalb Europas neu gestalten – auch wenn Polen eine neue Regierung hat. (Gerald Schubert, 19.10.2023)